Imre Kertész

In kleinen Touristenorten gibt es neuerdings in Gassen Regale mit Büchern oder alte Telefonzellen voll mit solchen. In Heitersheim fand ich unter 95 Prozent Mist kürzlich einen dünnen Rowohlt-Band von Imre Kertész, Ich –ein anderer: aus dem Jahr 2002, als der ungarische Autor den Literatur-Nobelpreis bekam.

A propos Nobelpreis: Von dem diesjährigen Preisträger (Patrick Modiano) hatte ich noch nie gehört , auf Ehre! Er soll einer der herausragenden Schriftsteller Frankreichs sein, und ich wusste das nicht; ich glaube aber nicht, dass das schlimm ist. Dieser Nobelpreis ist ja auch derart eurofixiert (oder amerikalastig, wahlweise), dass man sich für ihn fast schämen muss. Warum wohl Handke, der Modiano anscheinend bekannt gemacht hat, für die Abschaffung des Preises plädierte? Vielleicht war es ihm auch etwas peinlich.

Kertész ist ein großartiger Autor. Sofort, auf den ersten Seiten dieses Tagebuchs, das als Roman angeboten wird, spürte ich frische Luft. Wie gut das doch tut, eine andere Perspektive zu haben. Er ist ein Mann aus dem Osten mit analytischem Geist, tiefsinnig und selbstzweiflerisch. Wie gut das tut! Die Literatur ist ja auf dem Hund und kommt nicht mehr hoch.

Kürzlich sah ich ein Plakat, das eine Lesung von Frank Schätzing ankündigte, dem Science-Fiction-Autor, und dieses Plakat sah bunt aus wie das einer Popgruppe. Lesung mit Musik. Überall nur Hype, Events und Humor. Man will unterhalten werden, laut und knallig. Lachen will man.

Kertész, 1929 geboren, ist nun ein alter Mann. Krank ist er 2012 nach Ungarn zurückgekehrt. Er schreibt zum Beispiel: »Die an einem Vaterkomplex leidende, sadomasochistisch pervers osteuropäische Kleinstaatenseele kann, wie es scheint, nicht ohne den großen Unterdrücker leben, auf den sie ihr historisches Missgeschick abwälzt, und nicht ohne den Sündenbock der Minderheiten, an dem sie all den Hass und all das Ressentiment, das der tägliche Frust erzeugt, abreagiert.«

»Ungarisch ist, was nicht jüdisch ist. Nun gut, aber was ist jüdisch? Das ist doch klar: was nicht ungarisch ist.« Ich habe ja erwähnt, wie ab März 1944 die Züge von Ungarn nach Auschwitz rollten, das war nicht allzu weit, und wie 750.000 ungarische Juden vergast wurden. Sandor Marai kam zu Wort, auch er ein großer ungarischer Autor. Und an Miklós Radnóti wurde erinnert, der auf einem Todesmarsch nach Österreich erschossen wurde, im November vor 70 Jahren. Auf solch einem Marsch muss es gewesen sein, dass Imre Kertész‘ Vater ums Leben kam, Anfang 1945.

Der Autor sucht die Stätte auf. »Schließlich gelangten wir an einen Ort, wo weißer Staub in der Luft lag und die Menschen in elenden Buden Bier tranken. Hier begann eine Steinwelt, weiße Kiesel, weiße Steine, weiße Felsen im harten Licht des Sommerabends.« Dann: »Vor uns Steinhaufen, Geröllflächen und etwas weiter ein von steilen Felswänden umgebener Kessel. Wir verstummten, denn wir begriffen, dass wir am gesuchten Ort waren. Auf dem beschwerlichen Marsch nach Österreich … wurden die Todeszüge in dieses natürliche Felsenverlies, vermutlich ihr letztes ungarisches Quartier, getrieben, bevor man sie den Deutschen übergab; von hier aus ging es dann weiter in die Konzentrationslager auf österreichischem Gebiet.

»Zehntausende dürften hier im Winter und Vorfrühling 1945 , zwischen den Steinen, in bitterer Kälte haltgemacht haben. Wer am Morgen nicht weiterkonnte – oder -wollte –, wurde in den Höhlen erschossen. Wir sprachen kein Wort, der trostlose Schauplatz verriet alles. Nur hier konnte es geschehen sein, der Genius dieses Ortes war die Salve, die Folter, der Mord.«

 

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