Erweckung

Der Mensch möchte zu gern Schöpfer sein und toter Materie Leben einhauchen. Dieses Motiv zieht sich durch viele spirituelle Traditionen, und es gibt Geschichten darüber, dass Gedankenformen Leben annahmen. Sehen wir uns diese Geschichten einmal an.

Im tibetanischen Buddhismus kennt man Beispiele. Die Abenteurerin Alexandra David-Néel (1868-1969) will durch starke Konzentration eine Gestalt hervorgebracht haben, die in ihrem Haushalt lebte. Es war ein Mönch, der aber unangenehme Wesenszüge trug, und sie hatte Mühe, ihn wieder loszuwerden. Das Medium Dion Fortune schuf durch die Imagination einen Wolf, der aber auch hartnäckig bei ihr blieb.

Yeshe Tsogyel ist eine literarische Gestalt und gilt als Reinkarnation der Mutter Buddhas. Sie verkörpert die Weisheit und nimmt die Gestalt einer Frau an, damit sie auch dem durchschnittlichen Manne verfügbar ist. Sie ließ immer mitteilen, man dürfe sie nicht als eigenständige Person sehen, abgetrennt vom Beobachter; sie bittet jemanden, sie als Begleiterin (consort) zu akzeptieren, und sie ist in der Lage, ihm das gnostische Bewusstsein zu schenken. Jeder Mensch ist ein Guru und ein Dakini, ein Himmelstänzer oder eine Himmelstänzerin. Padmasambhava hatte neben Tsogyel noch vier weitere Begleiterinnen.

Im westlichen Mythos haben wir den Bildhauer Pygmalion, von dem der römische Dichter Ovid in seinen Metamorphosen erzählt. Pygmalion lebte ehelos, »und lang auch teilt‘ er mit keiner das Lager«, doch dann schuf er eine Statue, eine wunderschöne Jungfrau. »In Entzücken verloren, fasst zu dem scheinbaren Leib Pygmalion glühende Liebe.« Er küsst die Statue und nimmt sie auch in sein Bett. Der Bildhauer opfert der Venus und bittet sie, ihm die Jungfrau zur Gattin zu geben. Das Opferfeuer flammt drei Mal auf – das ist das Zeichen. Venus gewährt ihm die Bitte. Pygmalion kehrt heim und küsst die Statue … »Und die Jungfrau fühlt mit Erröten, wie er sie küsst, / und scheu aufschlagend zum Lichte die lichten Augen / erblickt sie zugleich mit dem Himmel des Liebenden Antlitz.« (Illustration: Statue im Umgang des Campo Santo, Pisa)

William Shakespeare lässt seine Winter’s Tale mit einer solchen Erweckung enden. Hermione, die Frau des Königs Leontes, war 16 Jahre tot. Dann zeigt Paulina dem König ihre Statue, die ungeheuer lebensecht wirkt. Leontes kann seine Augen nicht von ihr lassen. Paulina gibt ihm zu verstehen, sie könne die Statue mit Leben erfüllen, aber wer etwas gegen Magie habe, möge den Raum verlassen. Dann spricht sie Zauberformeln, Hermione steigt vom Podest herab, und Leontes sagt den berühmten Satz: »O, she’s warm! If this be magic, let it be an art / Lawful as eating.« Wenn das Magie sei, dann müsse sie als Kunst gelten, so legitim wie zu essen. – In einem Kommentar zum Buch Sefer Jezirah der Kabbala wird beschrieben, wie man mittels schier unzähligen, schwierigen Kombination hebräischer Buchstaben und deren Rezitation eine Gestalt erschaffen könne, einen Golem. Dem Rabbi Judah Löw soll das in Prag gelungen sein, aber auch dieser »Homunkulus« geriet außer Kontrolle, griff Passanten an und konnte kaum zur Räson gebracht werden. Vorsicht ist angebracht, wenn der Mensch zum Schöpfer werden will.

Im Französischen gibt es das Wort Égregore, das die Personifikation von Gedanken bezeichnet. Er entsteht durch starke kollektive Wünsche und Gebete. Manchmal kann man den auch Eindruck haben, man hätte eine Geschöpf, das in sein Leben tritt, erschaffen, wo man es vermutlich nur durch intensive Wünsche angezogen hat.

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