Woanders hin

Ein Feiertag, Anlass zu einem ernsten Thema. Am Montag vor einer Woche erfuhr ich von einem Selbstmordfall. Ein junges Mädchen, 30 Jahre alt, hatte sich in Zürich das Leben genommen, obwohl es schon lange in Behandlung war. Ich las gerade Veronika beschließt zu sterben von Paolo Coelho, und dann fiel mir ein, das ich schon einmal an einem 3. Oktober über Suizid geschrieben habe, vor vier Jahren. Es muss auch der Einfluss des Herbst sein.

Es wird ja alles gezählt. In Deutschland liegt die Zahl der Toten durch Suizid  ungeachtet Regierung oder wirtschaftliche Konjunktur seit 50 Jahren konstant bei 10000. Die Zahl der Verkehrstoten konnte man von 1970 (fast 20000) bis heute auf ein Fünftel drücken, doch gegen das Mal de vivre (ein eleganter französischer Ausdruck für Lebensüberdruss) hilft anscheinend nichts.  

Hilft das? Ein Hilfsangebot an einer gefährlichen Stelle in St. Gallen

Es gibt in Europa große Unterschiede. Schon Émile Durkheim (1858−1917) hat in seiner Schrift Le suicide (1897), die für die Soziologie stilbildend wurde, Unterschiede der Häufigkeit in bestimmten Gesellschaftsschichten herausgearbeitet. In einer zehn Jahre alten Statistik lag die Selbstmordquote in Griechenland  bei 4 Menschen von 100000 im Jahr, in Portugal und Deutschland bei 9. Frankreich weist die Quote 14 auf, die Schweiz 19, was 1400 bis 1500 Tote im Jahr bedeutet. Ungarn hat eine hohe Suizidquote, und sehr hoch liegt sie im Baltikum: Lettland und Estland 34, Litauen 44.  

Oft will der Mensch ja nicht sterben, sondern nur seinem Elend entrinnen, weg und woanders hin. Stille will er. Und dabei vergisst er, wie sehr er Angehörigen und Freunden mit seiner Tat auf Jahre hinaus weh tut: für immer.  Es gab viele philosophische Überlegungen zu diesem Grundproblem des Menschen, und der algerische Literatur-Nobelpreisträgern Albert Camus sowie der schottische Politologe John Stuart Mill haben den Selbstmord als Zurückweisung der individuellen Freiheit gedeutet — im Gegensatz zu dem beschönigenden Ausdruck vom »Freitod«.   

Eins ist klar: dass Selbstmord ein ansteckendes Phänomen ist. In Gruppen Jugendlicher kann ein Suizid weitere auslösen; Fans folgen einem Star, der sich das Leben nahm, in den Tod; und Medienberichte führen leider oft zu Nachfolgetaten. Es ist nie bekannt gegeben worden, wieviele Menschen sich vor einen Zug warfen, nachdem der Torwart Robert Enke Anfang November 2009 seinem Leben so ein Ende gesetzt hatte. Damals hatten sich alle Medien auf den Fall gestürzt und ihr ganzes Pathos mobilisiert. 

St. Gallen, 2008

Kürzlich brachte sich eine Schauspielerin in München um, die Süddeutsche Zeitung berichtete auch (»Einsamer Tod im Glockenbachviertel«) und hängte an ihren Artikel eine kursive Passage an, in der es hieß, Details seien ausgespart worden, um nicht zur Nachahmung anzuregen; wer Probleme habe, möge ich an die Telefonseelsorge wenden. Doch vorher war der Fall lang und breit geschildert worden, und nur, wie genau die Frau sich getötet hatte, erfuhr man nicht. 

Dafür gibt es keine Lösung. Man kann die Todesursache nicht verschweigen, denn das wäre eine Lüge, und der »menschliche Faktor« treibt die Medien natürlich um. Ein Bewusstsein für das Problem, das gern totgeschwiegen wird, muss geschaffen werden. Selbstmorde sind eigentlich vermeidbare Todesfälle, und sieht man von alten und psychisch kranken Menschen ab, sind es meist gesunde Bürger in einer temporären Lebenskrise, aus der sie keinen anderen Ausweg wissen. 10000 Menschen im Jahr in Deutschland, das ist eine Kleinstadt!   

 

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