Alt sein

Anfang Oktober erzählte ich in der Senioren-Wohnanlage in Staufen, in der meine Mutter lebt, von Rom und las aus meinem Roman. Ich hatte zwölf alte Damen (und einen Herrn) als Zuhörer, die schön mitgingen. Die Anlage hat 64 Wohnungen. Alle Bewohner müssen täglich zwei Mal auf einen grauen Knopf drücken, um nachzuweisen, dass es ihnen gut geht; dass sie noch leben.

Kurz bevor ich zu lesen begann, musste die Leiterin der Anlage weg. Jemand habe »Hallo« gerufen. Was war los? Eine Bewohnerin war gestürzt und lag hilflos in ihrer Wohnung. Oberschenkelhalsbruch – wie eine Woche zuvor bei der Nachbarin meiner Mutter, beide Male durch einen Sturz. Die Leiterin kam erst nach meiner Lesung zurück. »Notarzt, das volle Programm« meldete sie. Schlimm.

Zum Mittagessen kommen meist nur zehn Leute. Ein paar sitzen immer zum Plaudern in der Eingangshalle. Die meisten Bewohner aber sieht man nie. Das Mittagessen könnten sich die meisten nicht leisten, erfuhr ich. 900 Euro Rente, 600 davon für die Wohnung, da bleibe nicht viel. Einkaufen bei Penny, kochen zu Hause.

Am Tag zuvor hatte ich über Heime und Heiminsassen gelesen, »zufällig« natürlich. Michael Tymn aus Hawaii, ein Parapsychologe, ist 79 Jahre alt und besucht manchmal Heime, um sich zu informieren oder alte Freunde zu besuchen. Er schrieb darüber einen Blog-Beitrag. »Die Insassen wirkten wie Zombies und kannten einander scheinbar nicht, und außerhalb der Mahlzeiten im Speisesaal steckten sie alle in ihren Apartments. Dort blieben sie so gut wie möglich alleine.«

Flughafen Rom-Fiumicino

Auch in einem Heim für Pensionäre auf Hawaii sah Tymn kaum etwas von seinen Bewohnern, die nur zum Essen kamen, ansonsten aber sich versteckten. In den Jahren habe er in diesen Instituten nur Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gesehen – es sei ein Warten auf den Tod. Aber als er versuchte, das Thema Tod anzusprechen, wehrten die Insassen ab. Jede Erwähnung des Todes hatten Schock und Schreck zur Folge. Tymn ließ es sein.

Ich las zudem wenige Stunden vor meinem Auftritt den Band Vom Alter – De senectute von Norberto Bobbio (1909-2004), der 1996 erschien. Der bekannte italienische Politologe und Philosoph wies auf das Buch Vecchi von Sandra Petrignani hin und schrieb: »Nahezu alle der alten Menschen, die sich der Autorin offenbaren, haben keine einzige Hoffnung mehr. Sogar die religiöse Hoffnung taucht fast nirgendwo mehr auf. Es sind vollkommen verzweifelte Menschen.«

Trotzdem waren drei oder vier Frauen bei meiner Lesung gut drauf, lachten und amüsierten sich. Auch die in der Eingangshalle mit ihren weißen Hunden lachen gern. Verzweiflung ist nicht die Regel. Doch die anderen, die man nicht sieht? Sie haben gelebt und nun keine Perspektive mehr. Am Ende steht der Tod, der den meisten wohl einem gähnenden Loch ähnelt.

Da hat aus meiner Sicht die Religion versagt. Sie hat wie die ganze Gesellschaft den Tod ausgeblendet und sich auf das Irdische konzentriert. Sogar das Christentum scheint nicht an das Paradies zu glauben; die Priester reden halbherzig darüber und am liebsten gar nicht. Sie wollen ernst genommen und angehört werden, aber wenn jemand den wichtigsten Teil der Frohen Botschaft unterdrückt, verrät er sich dann nicht?

Der Bodensee, von der Fähre aus

Alles wird erforscht, der letzte Kleinkram, der letzte Dreck, und wenn es um die einzige Gewissheit des Menschen geht, Tod und Nachleben, herrscht Leere, sogar Feindseligkeit. Wer darüber spricht, gefährdet seine Karriere, wenn er etwa Wissenschaftler ist.

Dabei gibt es Zeugnisse: so viele, dass man zehn Jahre pausenlos lesen könnte. Diese Zeugnisse mittels Nahtod-Erfahrungen, außerkörperliche »Reisen«, materialisierte Verstorbene und anderen, die sich über direkte Stimme oder sonstwie über Medien melden, sind zum Teil überzeugend und decken sich. Wenn ich sage, dass ich das Leben nach dem Tod für erwiesen halte, wiederhole ich nur, was ein paar ernstzunehmende englische Gelehrte schon vor 50 Jahren sagten.

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