Elektrobeats

Für eine Recherche vertiefte ich mich in das Buch Elektroschock, das der berühmte DiscJockey Laurent Garnier mit David Brun-Lambert geschrieben hat und das 2013 erschien. Es bietet eine Geschichtsschreibung aus erster Hand über die House- und Techno-Bewegung, die von 1988 bis 2003 Europas Jugend faszinierte. Fesselnd!
Alles fing 1988 an, im »Sommer of Love«. Da entstand eine Untergrund-Jugendbewegung, die der von 1968 nicht unähnlich war. Ein Zentrum lag in Manchester. Die englischen Clubs mussten um zwei Uhr morgens schließen. Kurz vorher wurde der letzte Song gespielt. »Da lag etwas sehr Starkes, fast Religiöses in der Luft. Es war wie ein Gottesdienst«, schildert Garnier. »Jede Party lief auf diesen Moment zu, diese letzte Platte, die fünf Minuten vor Schluss auf rituelle Weise gespielt und durch eine Ruhepause angekündigt wurde: Someday von CeCe Rogers. Und ich kann euch als Tänzer versichern, dass in diesem Augenblick der ganze Club einen Gipfel des Vergnügens erreichte, der nahe am Orgasmus war.« Die Trance. Tranceformers.

elephant2Mich interessiert natürlich die Kommunikation zwischen dem DJ, dem Elektroschamanen, und seinen Kunden, die die Ekstase erleben wollen. »Mir wurde es klar, dass es einen Gral zu erreichen gab, eine Magie, die es in jeder Nacht einzufangen galt: die Tänzer zum Träumen zu bringen, sie zu überraschen, sie durch die Auswahl der musikalischen Farben zu verführen. … Wenn alle notwendigen Parameter für die Entstehung der richtigen Chemie vorhanden sind, entsteht eine elektrische Spannung. Ihre Intensität und ihre Entwicklung werden allein von den Vorgaben des DJs bestimmt. Die Musik wird zur Reise. … Für die Rolle des DJs gibt es kein anderes Geheimnis als die Lust zu teilen.«

Bald wurde es kompliziert. Die Spielarten des Electro hießen Techno, Piano House, Deep House, Hip Hop, Drum n‘ Bass, Electro Rock, Detroit Techno, New Beat, Getto House (Detroit), Trance (psychedelisch und romantisch), Chicago House. Alles spielte sich im Club ab. Laurent Garnier erklärt dazu, warum der Club: »Man entflieht der Dunkelheit, findet dort Lichter, menschliche Wärme und Gesellschaft rund um den Rhythmus, man fühlt sich also geborgen. Einer Gesamtenergie zugehörig, löst sich der Tänzer von Frust, Ängsten und belastenden Gefühlen. (Illustration: zwei DJs, die im Elephant Club in Sankt Gallen auftraten, Mai 2013)

elephant»Ich glaube an die Kraft der Energien. Ich glaube wirklich, dass die Launen des DJs sich über die Nadel des Plattenspielers übertragen und dass sie von dort über die Boxen verbreitet werden und auf die Tänzer niedergehen. Ich glaube, dass eine untergründige Verbindung den DJ und die Tänzer vereint, dass, wenn sie sich zusammenfinden, ein Energieaustausch stattfindet. (…) (Ein Mädchen: „Heute war komisch, du hast uns total dominiert.“) … Zwischen ihnen und mir bestand eine Liebesbeziehung, die ich völlig beherrschte. … Die Vibrationen solcher Nächte hinterlassen für immer Spuren in deinem Körper. … Der Körper ist ein Transistor. Er sendet und empfängt Schwingungen.« (Illustration: Programmheft des Elephant Clubs in St. Gallen, April 2013)

Wenn der DJ die Vibrationen der Musik nicht spüre, »welche die Ärsche der Tänzer bewegen werden, dann spürt er die Energie nicht, die der Saal ihm entgegenbringt … Wenn du nichts gibst, bekommst du auch nichts zurück.« Es ist laut Garnier eine Energie, die man mit Sprache nicht wiedergeben könne, die die Tänzer ergreife und auf der Tanzfläche alles wegfege …

Laurent Garnier resümierte: »Die elektronische Musik hatte überall Einzug gehalten, sie war auf der ganzen Welt verbreitet, sie hatte sogar die Regeln der Popästhetik erobert.« 1997 war gesellschaftliche Anerkennung für Techno zu erkennen. Das Programm Final Scratch ermöglichte es dann 2001, ohne Vinyl-Platten originale Tracks zu sampeln und aufzuführen. Jeff Mills sagte über die Begleiterscheinungen: »Heute machen die Leute Musik, ohne sich nur im Geringsten kreativ zu engagieren. Der Computer macht alles für sie. Das wird Techno umbringen. Die „›House Nation‹“, von der man vor zehn Jahren als einigendes Banner für alle Clans der elektronischen Musik träumte, ist ein frommer Wunsch geblieben.«

Heute läuft das alles weiter, aber etwas flauer und gezähmt. Ich weiß es nicht genau, ich kenne nur die Musik, die mein 24-jähriger Neffe hört. Drogen sind nicht mehr dabei; Alkohol natürlich schon. Garnier schrieb über Fußballspiele, bei denen die meisten Besucher unter Ecstasy standen und sich am liebsten alle umarmt hätten. Sicher ist Ecstasy nicht harmlos, aber den Medien (und der Gesellschaft) ist es gelungen, die Droge als dämonisch hinzustellen. Sie ist nun ebenso tabu wie LSD.

Verbrüderung und Friede ist dieser Konkurrenz-Gesellschaft unheimlich. Sie bevorzugt Fußballschlachten und Fernsehkrimis, weshalb auch immer. Konsum und Karriere sollen sein, damit das Geld fließt, und das läuft nur, wenn die Mitglieder der Gesellschaft vereinzelt um ihre Soloziele kämpfen. Jeder ein Einzelkämpfer, das wird angestrebt.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.