Der Golem

Ich entleihe mir Bücher in der Universitätsbibliothek, und kaufen tu ich nur welche aus den öffentlichen Regalen in Staufen und Bad Krozingen, in denen arme abgelegte Bücher warten. Oft ist ein Volltreffer darunter. Den Roman Der Golem von Gustav Meyrink (1868-1932), vor 100 Jahren erschienen, war einer. Den wollte ich schon lange lesen.

Damals schrieb man farbig, fahrig, mutig, konfus: expressionistisch hieß das. Meyrink kann das gut, er schildert uns das düstere Judenviertel Prags, durch die Augen von Athanasius Pernath, der eigentlich ein anderer ist. Etwas Traumartiges und Alptraumartiges zieht sich durch den ganzen Roman und lässt einen am Ende auch leicht verwirrt zurück.

breslauDer Erzähler hat irrtümlich einen Hut mitgenommen, der Pernath gehörte und ist plötzlich der Gemmenschneider Pernath. Der Golem kommt herein, dieses sagenumwobene Halbwesen, von einem Rabbi ins Leben gerufen und doch nicht so richtig am Leben. Pernath soll an einem Buch das I von Ibbur ausbessern; Ibbur heißt Seelenschwängerung. Das ist wohl mit dem Erzähler passiert: Pernath ist in ihn eingedrungen.

Er lernt die schöne Angelina kennen, verliebt sich in Mirjam, die Tochter des weisen Shemajah Hillel, und auch Rosina aus der Gasse unten schenkt ihm seine Gunst. Der Student Charousek erzählt ihm von Dr. Savioli, den der Trödler Aaron Wassertrum töten will, und von Dr. Wassory … ach, man sollte über Bücher gleich nach dem Lesen schreiben, eine Woche später ist die Handlung schon etwas verblasst.

DSCN0519Verwunderlich ist, dass sie eigentlich wenig mit dem Golem zu tun hat, der am Anfang erscheint und dann nie wieder. Die Stärke des Buches liegt in der Atmosphäre. Meyrink hat es vielleicht nicht beabsichtigt, aber er zeichnet eine fremde, bedrohliche jüdische Welt mit Aaron Wassertrum als Urbild des schurkischen Juden, dem jedoch als Lichtgestalt Schemajah Hillel gegenübersteht.

Eigenartig liest sich der Schluss. Der Erzähler erlebt seinen eigenen Tod (was am Beginn angedeutet wird, als er ohne Ich auf dem Bett liegt) und fährt zur alten Judenstadt, die es nicht mehr gibt. Niemand mehr da, alles zerstört. Was sich wie ein Fanal dessen liest, was 30 Jahre nach dem Erscheinen des Buches wahr werden sollte ― die Vernichtung der Judenheit im Osten ―, erklärt der Erzähler jedoch glaubhaft mit der Renovierung und Sanierung des Prager Gettos 1885.

grazwien1Ein Fährmann rudert ihn über die Moldau; das ist natürlich eine Anspielung an Charon, der in der antiken Tradition die Toten über den Styx ruderte. Er tritt in einen Palast ein, den er schon kennt ― und sieht sich selbst am Balkon neben Mirjam stehen. Aber er darf nicht eintreten und muss zurück, zurück in sein Leben. Anscheinend hat er für einen anderen gelebt. Das ist nicht ganz klar und auch nicht logisch, aber man kann sich der Faszination nicht entziehen und denkt darüber nach, was denn eigentlich geschehen ist und was das mit dem Golem zu tun hat.

Das Buch wurde zum Bestseller und auch verfilmt. Der Golem beflügelt die Fantasie wie Frankenstein, den Mary Shelley hundert Jahre vor Meyrinks Buch der Welt schenkte. Diese düsteren Geheimnisse geben uns zu denken und verstören uns. Nun, hundert Jahre nach dem Golem, haben wir Bücher und Filme mit wenig Atmosphäre und durchsichtiger, rationaler Handlung, und sie lassen uns kalt.

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