Kreative Arbeit

Lavoro creativo (kreative Arbeit) hat Primo Levi eine zehnseitige Erzählung in seinem Band Vizio di forma von 1971 benannt. Es läutet an der Tür des Schriftstellers Antonio Casella. Vor ihm steht einer, der sich als James Collins vorstellt und behauptet, eine Figur aus Casellas Werken zu sein. Eine Diskussion beginnt …

Primo Levi (1919-1987) ist durch seine Bücher Ist das ein Mensch? und Die Atempause bekannt geworden, in denen er über seine Erlebnisse auf dem »Planeten Auschwitz« schrieb. Es wurden die eindringlichsten Dokumente aus jener Hölle auf Erden. (Ich fand am furchtbarsten: Sonderbehandlung von Filip Müller, 1979.) Doch Levi war nicht nur Chemiker, sondern auch Schriftsteller. Nach seinem Ruhestand verschrieb er sich ganz dem Schreiben. Am liebsten verfasste er Erzählungen, in denen es um Zukunftsentwürfe und andere Welten geht.

Donohoe_2swDass eine literarische Figur seinen Urheber konfrontiert, ist ein origineller Einfall, den aber auch schon ein anderer hatte: der spanische Dichterphilosoph Miguel de Unamuno (1864-1936). In seinem Buch Niebla von 1914 taucht Augusto bei seinem Erfinder auf und erfährt, dass der Dichter ihn demnächst (literarisch) töten wolle. Die letzten 20 Seiten des Buches gehören dem Austausch der beiden. (Illustration: eine Skotografie von Margaret Donahoe, The Valley of the Shadow of Death) Auf der Seite Aleatorik lesen wir dazu (März 2013):

Zentral in der Diskussion der beiden ist der Umstand, dass literarische Figuren nicht dem Willen ihres Schöpfers unterliegen, sondern eine eigene Dynamik entfalten können und dies auch in der Regel tun. Es geht um den freien Willen … Als Augusto erfährt, dass Unamuno plane ihn zu töten, will er nur noch eins: leben. … Augusto konfrontiert nun seinerseits de Unamuno mit dem Tod, denn auch er müsse ja sterben. Das wiederum bringt den Schriftsteller so gegen Augusto auf, dass er seinen Plan noch einmal betont … De Unamuno verurteilt sein Geschöpf zum Tode. Aber so leicht lässt der ihn nicht entkommen und reagiert nun seinerseits: »Sie schufen mich, um mich sterben zu lassen! Jawohl, auch Sie werden sterben. Wer erschafft, erschafft sich, und wer sich erschafft, stirbt. Sie werden sterben, Don Miguel, Sie werden sterben, sterben wie alle die, in deren Gedanken ich lebe!«

DSCN5100James Collins ist von seinem Urheber ja schon getötet worden (durch Drogen) und erläutert, er lebe im Parco Nazionale wie alle Romanheldinnen und –helden, solange sie noch im Gedächtnis der Menschen verankert sind. Das ist ein netter Einfall. Hans Castorp aus Manns Roman Zauberberg, erzählt Collins, habe sich von Frau Chauchat getrennt und lebe nun mit der Kameliendame zusammen (der Heldin des gleichnamigen Romans von Alexandre Dumas, 1848). Im Nationalpark lebten auch Wesen, die gelebt hätten, aber auch literarische Gestalten seien (Richard III. zum Beispiel, von Shakespeare unsterblich gemacht). Auch er, Casella, sei ein solches Zwitterwesen, weil er, Collins, Erzählungen mit ihm als Helden geschrieben habe, aus Langeweile. Er solle sie sich einmal durchlesen. Casella liest. Er erkennt, das Collins nicht schreiben kann und empfiehlt ihm schroff, es sei zu lassen. Der Amerikaner geht verärgert fort. (Illustration: Anhalter Bahnhof, Berlin)

Doch Casella ist unruhig. Er würde gern im Nationalpark leben, zusammen mit anderen Romanfiguren – lieber als im echten Paradies. Er ist alt geworden, und die Seiten vor ihm bleiben immer öfter weiß wie seine Haare es sind. Also macht er sich daran, eine lebhafte, wunderbare, glanzvolle Autobiografie zu schreiben: »Er schuf eine Welt, die wahrer als wahr war, und im Mittelpunkt befand sich er …« Casella überbringt das Manuskript dem Verleger.

Zwei Wochen später tauchen an Antonios Tür zwei Funktionäre des Nationalparks auf. »Sie waren nett, aber auch in Eile; sie gestatteten Antonio nur ein paar Minuten, um seine Sachen zusammenzukramen, und dan nahmen sie ihm mit sich und brachten ihn fort.«

Antonio gefällt es dort. In einer weiteren Erzählung der Sammlung, Nel Parco, erleben wir das Leben im Park. Doch nach drei Jahren bemerkt er zu seiner Überraschung, dass seine Hände durchsichtig werden, und nicht nur seine Hände: Sein Schädel wird transparent, und sein Gesichtskreis erweitert sich — nach oben, unten, zu den Seiten: 360 Grad. Dann »verstand Antonio, dass seine Zeit gekommen war, seine Erinnerung erloschen und seine Zeugenschaft beendet. Er war traurig, aber fühlte weder Schrecken noch Angst. Er verabschiedete sich von James und von den neuen Freunden und setzte sich unter eine Eiche, um darauf zu warten, dass sich sein Fleisch und sein Geist im Licht und im Wind auflösen würden.« — Das liest sich wie eine Vorwegnahme von Levis Tod durch Selbstmord sieben Jahre später; in der Gestalt Antonios wünschte er offenbar seine Erinnerung (an Auschwitz) fort, und seine Zeugenschaft (für den Völkermord) hielt er für beendet.

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