Steppenwolf

Unterwegs auf einer Reise, die ich dann abbrach, hörte ich von dem Geschehen in Nizza. Das lässt mich nicht los seither. Das 19 Tonnen schwere Fahrzeug als Waffe, wie grauenhaft. Schon vor drei Jahren hatte ich von Fahrern geschrieben, die in Fußgängergruppen rasen: Außer Kontrolle.

Im Steppenwolf von Hermann Hesse tritt Harry in das magische Theater ein. Er nimmt an der Hochjagd auf Automobile teil. Virtuelle Realität?

Da riss es mich in eine laute und aufgeregte Welt. Auf den Straßen jagten Automobile, zum Teil gepanzerte, und machten Jagd auf die Fußgänger, überfuhren sie zu Brei, drückten sie an den Mauern der Häuaser zuschanden. Ich begriff sofort: es war der Kampf zwischen Menschen und Maschinen, lang vorbereitet, lang erwartet, lang gefürchtet, nun endlich zum Ausbruch gekommen. Überall lagen Tote und Zerfetzte herum, überalll auch zerschmissene, verbogene, halbverbrannte Automobile …

Es folgen elf ziemlich unerquickliche Seiten voll mit Bluttaten. 1927 ist der Roman erschienen. Hesse war in einer Krise und sah neue Kriege und Katastrophen voraus. Harry Haller, ein Mann von 50 Jahren, der »Steppenwolf«, plant seinen Selbstmord. Und hier und heute gibt es anscheinend einsame Steppenwölfe, die (wie damals der Norweger Anders Breivik) den eigenen Untergang und den anderer planen, und es bleibt nicht bei düsteren Gedanken und Rachevisionen: Die Tat wird ausgeführt.

Exkurs: Steppenwolf war eine erfolgreiche US-Band der 1970er Jahre. Ihr Song Monster war meine Einweihung in das Rock-Universum; ihn nahm ich 1971 als ersten überhaupt auf. Hier ist eine Aufnahme von 1971; Sänger John Kay ist übrigens ein 1944 geborener Ostpreuße und spielte immer den sonnenbebrillten Outlaw; der Song Born to be Wild war Soundtrack des Films Easy Rider (1969) mit Dennis Hopper und Peter Fonda, die schwere Motorräder fahren und am Ende erschossen werden von Männern, die freie und langhaarige Menschen hassen.      

Plötzlich spürt man den Anhauch der Apokalypse. Überall explodiert Gewalt. Theodor W. Adorno schrieb einmal, dass »der Gewalt ihre Verbalisierung vorausgeht«, und dass es nicht allzu lange dauert, »bis das Wort zur Tat wird.« Plötzlich ist der Horror unter uns. The horror. In dem Buch Herz der Finsternis von Joseph Conrad (1899) erlebt der Erzähler die letzen Worte des unergründlichenKurzt mit. »Er schrie in einem Flüstern einem Bild, einem Gesicht zu ― schrie es zweimal, wenn es auch kaum lauter klang als ein Hauch: ›Das Grauen! Das Grauen!‹ (The horror! The horror!)

Auch Claudius Seidl in der FAZ kam (gestern) auf die Wölfe, wie ich jetzt gerade las, nachdem ich Obiges geschrieben hatte. Auch das Herz der Finsternis kommt bei ihm vor: »Es gibt Wesen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen und auch mit den üblichen Fahndungs- und Präventionsmethoden nicht aufzuspüren sind. Sie heißen nicht Pokémons; man nennt sie ›einsame Wölfe‹. Sie sind nicht verhaltensauffällig geworden durch Hassparolen, komische Bärte, Reisen nach Rakka, ins Herz der Finsternis. Sie waren unsichtbar, bis der Wahnsinn ausbrach, in Orlando, in Magnanville, in Nizza.«

Diese Täter erklären Unschuldigen den Tod, verhängen und säen ihn. Sie sind wie die Pest. Und sie sind ansteckend. Die Medien beschäftigen sich intensiv mit dem Leben der Täter, was attraktiv wird, auch wenn sie dies nicht mehr erleben; schon die Fiktion von Wichtigkeit kann Irregeleitete zur Tat treiben. Aber das Totschweigen hilft auch nichts.

Wir sollten einen Monat der Gewaltlosigkeit ausrufen. Im August: keine Krimis mehr, keine politischen Angriffe; bewusstes Friedlichsein. manipogo wird im kommenden Monat besonders friedlich sein. Wir müssten eigentlich andauernd von den Opfern sprechen, jedem einen Tag widmen, damit jeder begreift, dass mit dem Tod eines Menschen eine Welt stirbt. Alle diese zerstörten Hoffnungen! Die Trauer der Angehörigen, die nie endet (erst mit ihrem eigenen Tod)! Aber schon in den ersten Berichten aus Nizza hieß es: Das Leben geht weiter. So ist das. Es darf und muss ja weitergehen, indessen nicht wie vorher. Denken wir darüber nach, was sich ändern ließe!

… Ich dachte, auf dem Balkon an der Sonne liegend, darüber nach. Wenn auch die Anschläge zu einer Krise im Nahen Osten gehören könnten und dieser wie wir in Europa 200 Jahre braucht, sich zu stabilisieren, so können wir dennoch nicht zulassen, dass Unschuldige sterben. Man wird den IS zerschlagen müssen, aber man sollte sich Afrika und dem Nahen Osten mehr zuwenden. Viel mehr. Ja, Zuwendung finanzieller und emotionaler Art ist nötig, Hilfe und Aufmerksamkeit. Wir erleben die Erschütterungen der Globalisierung und ungelöster Spannungen zwischen Schwarz und Weiß (in den USA) und Moslems und Nicht-Moslems. Sich einbunkern ist keine Lösung. (Das sage ich auch zu mir.)

 

 

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