Rom, klaustrophobisch

Tourist sein heißt, die Unterschiede zum eigenen Land, die man wahrnimmt, einzuschlürfen und dahinzuschlurfen, den audio guide am Ohr, in dessen Informationen man ertrinkt. Schön aber, einen kundigen und kritischen Führer aufzuspüren wie Julien Gracq in seinem Buch Autour des sept collines.

Gracq schrieb in seinem fast 100-jährigen Leben ― es dauerte von 1910 bis 2007 ― 20 Bücher (das könnte ich auch noch schaffen), und Um die sieben Hügel erschien 1988. Er war fast 70, schaute sich noch einmal Rom an, war nicht hingerissen, aber amüsiert.

Das bin ich auch immer. Die Verwalterin meines Bed and Breakfast empfing mich gleich mit den Worten, seit Einführung des Euro sei es mit Italien bergab gegangen. Ein Freund sagte mir grinsend, Italien gebe es praktisch nicht mehr, es sei am Ende. Von einem »zurückgebliebenen und miserablen Land« spricht ein Bauer in Moravias La ciocara, das 1957 erschien. Schimpfen und jammern gehört in Italien dazu.

Der Blick nach draußen: eingezäunt

Der Blick nach draußen: eingezäunt

Dabei sind sie selber träge und bequem. Und Halsabschneider sind sie. An der Appia antica eine Halbe Bier für 5,50 Euro getrunken, und im Le Bon Bock Café, meiner ehemaligen Stammkneipe an der Circonvallazione Gianicolense 249, kostet das Bier genausoviel (vor 5 Jahren: 3,50). Der Bierpreis ist ja etwas wie früher der Brotpreis: ein Gradmesser. Stefano schenkt jetzt Gutmanns Hefeweizen aus. Es kommt aus Titting im Landkreis Eichstätt. Nicht genial, aber trinkbar. Wahrscheinlich kam da mal ein Vertreter vorbei, der Italienisch konnte und erklärte den Römern, sein Bier sei eines der besten in Bayern, und: affare fatto. Geschäft gemacht.

Was sagen die Fernsehsender? Jeder zweite Italiener zwischen 18 und 35 lebt bei seinen Eltern, weil es keine Jobs gibt. Viele Schulen bröckeln vor sich hin, weil für Bildung man kein Geld ausgibt. Die erste Hälfte der Nachrichten im Fernsehen gehören dem Polit-Gequatsche, talking heads, viel Empörung und heiße Luft. Gracq schreibt, das italienische Volk raube dem Land viel von seinem Reiz: die »Theatralität der Gesten« und die »Zungenfertigkeit dieser halbparodistischen Sprache«.

Auch das ist Rom: deprimierend

Auch das ist Rom: deprimierend

 

 

Lilia, eine attraktive und elegante vietnamesische Dame, die am Pantheon für Ayurveda und Gesundheit wirbt, sagte sogar: »Wir sind hier ja in einer Kultur des Todes. Hier in Rom ist Jesus immer noch nicht auferstanden.«

Werfen wir mit Julien Gracq einen Blick auf die Raumgestaltung. Er fühlte etwas Klaustrophobisches (so wie ich gestern von schlecht gelüftet sprach). »Ich erstickte in Rom und Florenz ― erstickt in der Herrlichkeit der Kunst ―, wie wenn man in ein Museum ohne Fenster eingeschlossen ist.« Er schreibt, die Abwesenheit aufstrebender Linien im städtischen Panorama lasse an die horizontale antike Stadt denken. Als hätte der Schuh eines Riesen alles breitgequetscht.

Der Dom sei das wichtigste Symbol, und er wirke überall wie ein aufgegangener Hefekuchen. Gracq: »Ich atme in Italien nur mit Mühe (außer in Venedig, wo alles vom Meer kommt, dorthin läuft oder von dort zurückkommt), fühle mich eingeschlossen in eingemauerte Städte …« Die Macht des christlichen Kreuzes reiche nach oben, aber seine Wolkenkratzer seien unter der Erde. Nur eine enge Zone gestatte den Kontakt mit dem Licht. »Alles ist gemacht, um uns vor der freien Luft und dem Gefühl der Unbegrenztheit zu schützen: Hier ist eine Zivilisation entstanden, für die der freie Raum ohne Wert ist«, meint Gracq. All das gäbe er gern hin für die öde Gegend zwischen Valladolid und Salamanca, zwischen Saragossa und Lerida in Spanien.

 

Ein Kommentar zu “Rom, klaustrophobisch”

  1. Regina

    … „erstickt in der Herrlichkeit der Kunst“, geht das? Ich fühlte mich auch schon mal erschlagen von irgendwas „Zuviel“ – vielleicht gibt es einen Mittelweg, auf dem von jedem etwas zu finden ist, was man gerade sucht – viel Glück! ciao Gina