Die Sünde Religion

Nach Auschwitz und dem Zweiten Weltkrieg konnte es nur noch besser werden, dachte man. Die Welt würde, geläutert, dem Frieden entgegengehen. Aber nein: Sie spaltete sich in zwei Machtblöcke, die sich 45 Jahre unversöhnlich gegenüberstanden, und heute herrscht nur noch Unübersichtlichkeit. Carlo Levi hat in seinem Buch »Angst vor der Freiheit« einiges dazu zu sagen.

Paura della libertà wurde 1939 geschrieben, ich habe es gerade übersetzt (und hoffe, es irgendwo veröffentlichen zu können). Ganz am Ende des 120 Seiten langen Buches hat Carlo Levi (1902-1975), der Maler und Arzt war und durch das Buch Christus kam nur bis Eboli bekannt wurde, eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes ausgegraben, die oft als die Johannes-Apokalypse bezeichnet wird. Da ist Auschwitz ganz nah.

Johannes spricht von einer Bestie, die aus dem Meer kommt und der der Drache (Satan) „seine Macht, seinen Thron und große Gewalt“ (13,2) verleiht, die durch „Lästerungen gegen Gott“ spricht, in Gefangenschaft führt und mit dem Schwert tötet. Sie verführt die Bewohner der Erde dazu, Bilder herzustellen und sie anzubeten und bringt es soweit, dass „alle, die das Bild des Tieres nicht anbeten, getötet wurden“ (13,15).

Und es  brachte alle dazu, die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Sklaven, sich ein Malzeichen zu machen auf ihrer rechten Hand oder auf ihrer Stirn. Niemand soll kaufen oder verkaufen können, der nicht das Malzeichen trägt, den Names des Tieres oder die Zahl seines Namens.

Gemeint war die Zahl 666, the number of the beast, aber natürlich denken wir an das Brandzeichen, das die Nationalsozialisten den Insassen der Konzentrationslager einprägten. Johannes erwähnte die Dirne, „die große Stadt, die Herrschaft hat über die Könige der Erde“ (Off 18,18) und „an vielen Wassern sitzt“ (17,1) aus „Menschenscharen, Nationen und Sprachen“ (17,15), und sie sitzt auf der Bestie, die ein König aus scharlachroter Farbe ist, voll mit „Lästernamen“, „trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Zeugen Jesu“. Auf „seiner Stirn stand als Geheimnis ein Name geschrieben.“ (17,5) Babylon (das Berlin der Nazis), die Große, die Stadt der Morde und der Sklaverei, des Geheimnis und der Religion, wurde zerstört.

Nun haben wir Berlin wieder, neu und anders. Carlo Levi geht in seinem Buch weit zurück: zur Erbsünde. Der Mensch trennte sich von Gott, um selbst zum Gott zu werden. Dann wurde ein Gott Mensch (Jesus Christus), und Hoffnung kam auf. Doch es kam auch die Religion, und die christliche legte sich ihr Weltbild so zurecht: Am Anfang war die Erbsünde, am Ende steht die Apokalypse. Carlo Levi schreibt:

Aber das Kommen Christi ist selbst ein Mythos wie die Sünde Adams: In Wahrheit sind Fall und Sühne ewig und immerdar anwesend – so wie die Sühne ein für allemal eintreten kann und die Sünde nicht zu Anbeginn der Zeiten vorfiel. Ein andauerndes Fallen und ein andauerndes Wiedererstehen ist die Geschichte: Und wenn die Befreiung zu Religion wird, ist sie vergeblich. »Wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, ist Christus umsonst gestorben«, sagte der heilige Paulus.

Die Sünde ist darum die Unfähigkeit des Menschen, frei zu sein und sich Normen zu geben, die Suche nach einem ewig sicheren Gesetz, die Übersetzung der Freiheit in ein religiöses Symbol, die Furcht vor Gott, die natürlich die Furcht vor sich selbst ist, weil er aus sich  einen Gott gemacht hat. Für diesen bestimmten Gott wird die Welt transzendent und deshalb unverständlich und furchterregend: Alles wird Idol und fordert Opfer, alles wird Tempel und verbirgt ein Heiliges. Die Erbsünde, die einzige Sünde, ist die Trennung, ist die Religion des Menschen. Der Mensch wird Gott und damit Opfer – und um Gott zu sein, muss er sich von sich selbst trennen, den Garten verlassen, das Blut seines Bruders vergießen, Tyrann und Diener werden, die eigene Arbeit und Liebe hassen und als fremd empfinden, Körper und Geist voneinander trennen, in Angst leben und unter einem Joch, um das eigene Blut auf dem Altar zu vergießen. Und er muss das Wort außerhalb der Dinge setzen, das Leben außerhalb des Lebens; doch »das Wort ist bei dir, in deinem Mund und in deinem Herzen.«

Alle Gesetze und Regelungen sind vergeblich, wenn nicht der richtige Geist im Herzen wohnt. Das sagte auch Krishnamurti: Das Bewusstsein muss sich ändern; ohne das sind alle Reformen und Gesetze sinnlos. Wir erleben es heute, dieses engstirnige Rufen nach Einschränkungen und Bestimmungen, dieses unwürdige Herumschachern um Prozente und Promille, um Grenzen und Grenzwerte. Der Mensch hat sich das Bewusstsein erworben und sich definiert. Haben wir die Freiheit errungen, um sie anderen streitig zu machen? Müssen wir uns immer abgrenzen und absichern und abschotten? Hinter allen Problemen steckt die Angst vor der Freiheit. Der Mensch hat sich zum Gott gemacht, aber es fehlt ihm die Souveränität, ein Gott zu sein.

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