Die Befreiung

1945 wurde am 27. Januar Auschwitz befreit. Nach und nach kam auch ans Licht, was in anderen Konzentrations- und Todeslagern der Nationalsozialisten geschehen war. Die Menschheitsgeschichte musste umgeschrieben werden.

Noch nie war eine Bevölkerungsgruppe wegen ihrer Herkunft als lebensunwert erklärt, zusammengefangen und fabrikmäßig ermordet worden – zu Millionen in schrecklicher Präzision und Kondequenz. Erst 20 Jahre später kam es im Frankfurter Auschwitz-Prozess zu einer Art Ab- und Aufrechnung. Peter Weiss fasste alles in einem Oratorium in 11 Gesängen zusammen, das Die Ermittlung heißt.

Das sollte man nicht vor dem Einschlafen lesen; führt zu Alpträumen. Ist aber richtig so. Es war ein einziger Alptraum, und ich erinnere mich noch, als mir als Kind zum Bewusstsein kam, was wir da angerichtet hatten, und ich wollte es nicht glauben. Die Angeklagten lachen bei Peter Weiss gern. Sie nahmen es nicht allzu ernst. War schon lange her, gut, man hatte mitgemacht, als junger Mensch, ging eben nicht anders …
Wirklich nicht? Bei Peter Weiss sagt Zeuge 3 im Gesang von der Möglichkeit des Überlebens II:

Die Machtfülle eines jeden  im Lagerpersonal
war unbegrenzt
Es stand jedem frei zu töten
oder zu begnadigen
Den Arzt Dr. Flage
sah ich mit Tränen am Augen am Zaun stehn
hinter dem ein Zug Kinder
zu den Krematorien geführt wurde
Er duldete es
dass ich die Krankenkarten einzelner
schon ausgesonderter Häftlinge
an mich nahm
und sie so vor dem Tod bewahren konnte
Der Lagerarzt Dr. Flage zeigte mir
dass es möglich war
zwischen den Tausenden
noch ein einzelnes Leben zu sehn
er zeigte mir
dass es möglich gewesen wäre
auf die Maschinerie einzuwirken
wenn es mehr gegeben hätte
von seiner Art

bonecollor

Nun war man leider Angeklagter, aber im Zivilleben wieder geachtetes Mitglied der Gesellschaft, arbeitete bei Post oder Bahn: mit Pensionsberechtigung. Nelly Sachs (1891-1970), die 1967 mit Samuel Agnon den Literatur-Nobelpreis bekam, mahnte:

O ihr Finger,
Die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet,
Morgen schon werdet ihr Staub sein
In den Schuhen Kommender!

Wer gerettet wurde, litt weiter. Es war kein Segen, überlebt zu haben, eher ein Fluch. Der Chor der Geretteten von Nelly Sachs beginnt so:

Wir Geretteten,
Aus deren hohlem Gebein der Tod schon seine Flöte schnitt,
An deren Sehnen der Tod schon seinen Bogen strich ―
Unsere Leiber klagen noch nach
Mit ihrer verstümmelten Musik.
Wir Geretteten,
Immer noch hängen die Schlingen für unsere Hälse gedreht
Vor uns in der blauen Luft ―
Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut.

Kürzlich fiel mir das Drehbuch von La vita è bella (Das Leben ist schön) von Roberto Benigni und Vincenzo Cerami in die Hände. Der Film kam vor 20 Jahren in die Kinos und bekam 1999 drei Oscars: für den besten ausländischenFilm, den besten Hauptdarsteller (Benigni) und die beste Filmmusik (Nicola Piovani).

Guido (Benigni) wird in ein Lager verbracht, mit seinem Sohn Giosuè (Girogio Cantarini), und er muss, wie Benigni später meinte, eine unglaubliche Anstrengung aufwenden, »um den Sohn davon zu überzeugen, dass das Lager, in dem sie sich befinden, ein Ort ist, in dem man lachen kann, während um sie herum es Gaskammern, Krematorien und Leichenhaufen gibt und man Knöpfe, Seife und Briefbeschwerer aus Personen fertig. Der Horror des Lagers ist so groß, um unecht zu erscheinen; das Paradox, das Unglaubliche sind jedoch real.«

Guido wird am Ende von einem deutschen Soldaten in eine Hütte gebracht. Man hört Schüsse; der Soldat kommt wieder heraus. Dann treffen die Amerikaner ein und retten den kleinen Giosuè, der das Glück hat, seine Mutter Dora (Nicoletta Braschi) wiederzufinden, der er freudestrahlend zuruft: »Mamma, wir haben gewonnen! Abbiamo vinto! Mille punti! Da schiantare dal ridere. Primi! Abbaiamo vinto!« Roberto Benigni erinnerte an Trotzki, der in Mexiko auf die Männer wartete, die ihn töten würden, auf den Garten schaute, seine Frau und seine Kinder und meinte, das Leben sei es wert gewesen, gelebt zu werden. Das Leben ist schön.

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