Septemberlicht

Die Rezension des Romans Septemberlicht ist nun im Programm und muss es sein, auch wenn ich ihn schon im März gelesen habe. Er passt so gut zum blauen Fahrrad, mit dem Léa durch die Linien fährt. Septemberlicht von Horst Bienek (1930-1990) spielt auch am Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Schöner Titel. Der Krieg bricht aus und genau da, wo die Geschichte erzählt wird, in Gleiwitz (polnisch Gliwice). SS-Leute überfielen den dortigen Sender und schoben die Tat Polen in die Schuhe, und das war der Vorwand für Hitler, zu reagieren. Seit 5.45 Uhr am 1. September werde zurückgeschossen, hieß es.

Der Roman des Gleiwitzers Bienek ist der zweite von vieren (Tetralogie), an denen der Autor von 1973 bis 1987 schrieb. Leo Piontek wird bestattet, und das ist das Zentrum des Buchs. Witwe Valeska Piontek gefällt einem genausogut wie Anna Ossadnik, rastlose Romanleserin und Frau von Eisenbahner (wie mein oberschlesischer Opa Rudi) Franz.  Frauen sind ja meist interessanter als Männer, aber Léa mit ihrem blauen Fahrrad blieb unschlagbar. Meine Großeltern verließen schon 1922 Oberschlesien, das für die Männer meist vier Sphären bedeutete: Grube (die Arbeit im Bergwerk), Kneipe, Kirche, Bett. Den Frauen blieb Küche, Kirche, Bett. Dubben war das Verbum für Sex, lovemaking, faire amour.

Auch Arthur Silbergleit, der alte jüdische Dichter aus Berlin, gefiel mir. Er kennt Hermann Hesse und andere Intellektuelle, schafft es nicht, auszuwandern, und kehrt nach Gleiwitz zurück. Das liest man anfänglich sehr gern, aber nach dem zweiten Drittel zerfasert der Roman, viele Jungs treten auf und erleben etwas, es wird eine Menge geredet, die Hauptfiguren werden davon umspült und fortgetragen, nur Silbergleit hält aus.

Er liest in Gleiwitz aus eigenen Werken und trägt vor:

Manchmal ist mir, als küsste mich der Sabbat mit denselben heiligen Lippen, die noch eben im Gebet gebebt. Dann wird meine Seele friedensschön und rein. Die Sehnsucht lockt mich, meinen Frieden in die Welt hineinzuküssen, in die heiligen Kelche der Blumen und in die heiligeren der Seelen, in die dunklen Gassen, in denen die Schmerzen wohnen, und in die bangen Giebel, um welche die Abende wie seltsame blaugefiederte Vögel fliegen. Dann bin ich selbst ein Sabbat, ein Bräutigam des Traumglückes, und die ganze Welt schmiegt sich an meine Seele als Braut.

Das ist Mystik und religiöse Verzückung. Jedenfalls beschloss Silbergleit, in der Stadt zu bleiben. Gut kann das nicht sein für einen Juden. Man müsste nun die Fortsetzung lesen, Zeit ohne Glocken und Erde und Feuer.

Am Anfang ist der aufgebahrte Leo Piontek genau geschildert. Das las ich an einem Morgen (im März), und am Abend sah ich mit meiner Schwester und meiner Nichte den von ihr empfohlenen Film Manchester by the Sea , in dem Lee Chandlers Bruder im Krankenhaus aufgebahrt liegt. Ich wusste nichts von dem Film, doch als ich den Namen Kenneth Lonergan las, wusste ich alles. Er hatte doch im Jahr 2000 You Can Count On Me gedreht, den ich in meinem ersten Rom-Roman erwähnte (der nun ja Kritische Masse heißt). Hatte ich eines Nachmittags in Trastevere gesehen und war bezaubert von seiner Dichte und poetisch geschilderten Alltäglichkeit. Toll, Lonergan drehte zwischen diesem und dem Manchester–Film nur noch einen weiteren, ansonsten verfasste er das Drehbuch für einen großen Mafia-Film..

Für das Manchester-Drehbuch hat er auch einen Oscar bekommen. Schön ist die Musik Händels, die die winterlichen Aufnahmen der amerikanischen Ostküste begleitet. Der ganze Film ist überzeugend und packend und keine Minute zu lang, und man muss ihn mal mit dem hochgelobten, aber für mich nervtötenden Toni Erdmann vergleichen mit seinem unmotivierten Herumgefilme, den gerade noch die schöne Schlussphase rettet. Auch das Ende von Manchester by the Sea ist innig, und ermutigend ist es, dass noch solche Filme gemacht werden.

 

 

Ein Kommentar zu “Septemberlicht”

  1. Regina

    ja, ein schönes Bild, wie sich Moses vor der „erhabenen spirituellen Reinheit“ eines Schafhirten verneigt“… Liebe Grüße gina