Das poetische Land: Chile

Wir müssten in der Lage sein, eine »schöne und poetische Sprache« hervorzubringen, forderte Alejandro Jodorowsky, der 88-jährige chilenische Regisseur und Heiler. In den 1950-er Jahren hätten sie in Chile poetisch gelebt wie in keinem anderen Land, sagte er. Die Poesie habe alles durchdrungen.

»Das Land selbst lebte eingetaucht in Poesie«, schreibt er. Das habe am Charakter der Chilenen gelegen, aber auch am Wirken von fünf Dichtern.

Da war zunächst Pablo Neruda, der vor 44 Jahren gestorben ist, zwei Jahre nachdem er den Literatur-Nobelpreis bekommen hatte. Sein Einfluss war legendär. Dann Gabriela Mistral, die schon 1945 mit dem Preis geehrt worden war (Vor vier Jahren hatte ich auf manipogo Liebesgedichte aus Chile angeboten.) und 1957 starb, vier Wochen vor meiner Geburt. Sie war die Mutterfigur und eine Art Guru. Neruda starb übrigens 12 Tage nach dem Putsch von General Augusto Pinochet, der den Präsidentenpalalst La Moneda in Santiago de Chile angreifen hatte lassen. Präsident Salvador Allende nahm sich an dem Tag das Leben. Vor zwei Jahren hieß es nach der Exhumierung der Leiche Nerudas, er sei höchstwahrscheinlich ermordet worden — durch eine Spritze im Krankenhaus, in dem er wegen einer Krebserkrankung lag. Pinochet (1915-2006) ließ viele seiner Gegner töten.

Mit der Poesie war es dann vorbei. Thomas Barth scheibt in Heft 2/2027 von BIG Business Crime (über ein Buch von Werner Rügemer), dass »unter der Ägide von Henry Kissinger die CIA Rohstoffinteressen der US-Konzerne Anaconda Cooper und ITT gegen den demokratisch gewählten Sozialisten Allende durchsetzten. Mit Sabotage, Subversion und Popaganda vorbereitet, installierte man nach dem blutigen Umsturz eine der schlimmsten Folterdiktaturen der Geschichte. … Chile wurde so zum Versuchsfeld für die in den 1980-er und 1990-er Jahren weltweit durchgesetzten neoliberalen Privatisierungsorgien. Pinochet und sein Clan praktizierten während der Diktatur ein Multimillionen-Vermögen in die eigenen Taschen und deponierten es bei der renommierten Riggs-Bank. Dem mutmaßlichen Massenmörder wurde bis zu seinem Tod 2006 Asyl in London gewährt.« Die Riggs-Bank zahlte wegen Geldwäsche 50 Millionen Dollar Strafe, wurde für 650 Milionen Dollar verkauft, und die Besitzer halten – nach einem Namenswechsel – nunmehr die Mehrheit an dem 4000 Milliarden Dollar schweren Kapitalunternehmen Blackrock.

Chile wählte im Jahr 1989 Patricio Aylwin, der sich für die nationale Versöhnung einsetzte. Es kam zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Auch im Jahr 2000 zog ein Sozialist in La Moneda ein (ich erinnere mich: Der Palast wirkte düster wie ein Bunker.), und auch die gegenwärtige Präsidentin  Michelle Bachelet ist Sozialistin. Chile hat sich gerettet.

Zurück in die vergangene poetische Epoche. Vicente Huidobro (1893-1948) ist der dritte einflussreiche chilenische Dichter, und bei den noch fehlenden handelt es sich um Pablo de Rokha (1895-1968) und Nicanor Parra, dem Jodorowsky attestiert, er habe ein »typisch südamerikanisches Sex-Leben« geführt. Hat ihm gutgetan, denn er lebt heute noch. Anfang des Monats wurde er 102 Jahre alt. Immer wieder kam er aus Schweden mit einer blonden Schwedin heim, denn die Chilenen verehren die Blondinen. Ein wahrer Poet lebe ohne Angst, wage es, zu geben und habe die Kühnheit, wahrhaft exzessiv zu leben, meint Jodorowsky. Diese Fünf

waren so lebendig! Sie lebten und waren Kämpfer! Sie waren die besten Feinde der Welt, sie kämpften die ganze Zeit und tauschten Beleidigungen aus … Diese Leute exponierten sich; sie hatten keine Angst, ihre Leidenschaften zu leben. … Wir waren von Morgen bis zum Abend in die Poesie eingebunden. Sie war wirklich im Zentrum unserer Existenz. Diese Fünf waren ein alchemistisches Mandala: Neruda war Wasser, Parra Luft, de Rokha Feuer, Mistral die Erde und Huidobro, in der Mitte, die Quintessenz. … In Chile bebt die Erde alle sechs Tage. In Chile ist nichts fest, alles zittert. (Da lachte im Buch Jodorowsky.) Man lebte improvisiert, sowohl auf der materiellen Ebene wie auch auf derjenigen der Beziehungen. Eine Ehe, um sechs Uhr am Nachmittag  geschlossen, konnte am nächsten Morgen um sechs Uhr schon wieder zu Ende sein. Natürlich lag Angst dieser Verrücktheit zugrunde. Das Land war arm, die sozialen Klassen waren sehr streng getrennt.

Der Regisseur betont, dass Poesie erschütternd (convulsive) sei. Sie sei eingebunden in die Bewegungen der Erde. Sie durchbohre Lügen und Konventionen mit dem Schwert.

Was ist die Definition einer poetischen Handlung? Sie sollte schön, ästhetisch und ohne Rechtfertigung sein. Die poetische Handlung ist ein Ruf in die Realität. Man steht seinem eigenen Tod gegenüber, dem Unvorhergesehenen, dem eigenen Schatten, den Würmern, die in uns wühlen. Das Leben, das wir gerne logisch hätten, ist in Wirklichkeit verröckt, schockierend, wunderbar und grausam. Wir halten unser Verhalten für logisch und konsistent, aber es ist in Wirklichkeit irrational, verrückt, widerspruchsvoll. Wenn wir unsere Realität luzide betrachten, sollten wir bestätigen können, dass sie poetisch, unlogisch, überschießend ist.

Dann passt Alejandro Jodorowsky perfekt hinein, der jedoch festhält, die poetische Aktion dürfe nicht zu Gewalt führen. In dem Buch Psychomagic sagt er über sich:

O, ich weiß, manchmal bin ich unerträglich: Ich bin ein mystischer Clown, ein Surrealist der Spiritualität, ein Provokateur von Panik … Aber ich habe wirklich ernsthaft an mir gearbeitet. Man könnte mich für einen überdrehten Scharlatan halten, aber ich bin nichts weniger als ein aufrechter Mann, ein Schöpfer, der gerührt ist über das Leiden von Wesen, die in ihrem ganzen Leben nur der Schönheit dienen wollten, die sie befreien würde. … Was ich anstrebe, ist, zu teilen – zu meinem Guten und zum Guten der anderen.

Zu seinem Werk hier der Trailer zu seinem Film El Topo von 1970. Sehenswert!

 

 

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