Ich und der Petersdom

Helmut war in Venedig und erzählte gut gelaunt, wie viele Touristen mit ihrem Selfie-Stick vor einem historischen Gebäude ein Porträt verfertigen. »Sie stellen sich vor das Gebäude; sie kehren ihm den Rücken zu«, sagte er. Ich darf seine Beobachtung verwenden.

Groß im Vordergrund: das ICH. Oder eher: das GesICHt. Umrahmt von Teilen des Palazzo. Man sollte, meinte Helmut, die Gesichter mit Photoshop weiß machen, dann bliebe nicht viel übrig. Ich und der Petersdom. Ich in Venedig. Die Stadt wird zur Kulisse meiner Person. Ich war dort, um dort gewesen zu sein. Ich zeige den anderen: Ich war wirklich dort! (Es gibt natürlich schon Fake-Hintergründe, vor die man sich platzieren kann und simuliert, in der Karibik gewesen zu sein. Fun und Fake.)

Vor einer Generation, als ich jung war, lugte man durch den winzigen Sucher einer Kleinbildkamera und lichtete das Gebäude ab. Der Fotograf war nicht zu sehen; freilich, er hatte ja das Bild gemacht. Er hatte bewiesen, dass er dort war. Der Palazzo allein war zwar langweilig und sollte einen Eindruck vermitteln. Man warf die Dias auf die Leinwand, lu dazu Freunde ein, und die Ödnis hielt sich in Grenzen, weil es selten mehr als 100 Dias waren. Heute stellen Leute 1000 Bilder ins Netz.

Der Stab hilft, dass ich nicht andere immerzu bitten muss, mich zu fotografieren. Ich denke mir, ich mustere kurz das Monument, stelle mich davor und mache das Selfie. Hinterher ahne ich, wo ich gewesen bin. Hinterher entwickelt sich die Reise erst. (Wir gaben den Film ab und konnten die Bilder eine Woche später abholen. Das war spannend!)

Solche Blüten hat der Individualismus getrieben. Ist ja schon oft geschrieben worden: Das ist Narzissmus. Narziss betrachtet sich im Spiegel des Teichs, liebt sich, kann sich nicht näherkommen, und dann stirbt er, weil er nicht von sich erhört wird. Doch vorher hat Narziss die Nymphe Echo verschmäht, die aus Liebeskummer vor ihm stirbt. Echo war dazu verdammt worden, nur noch die letzten Worte zurückwerfen zu dürfen. Das Echo und das Spiegelbild: Man will Kontakt bekommen, sucht Verständnis und Liebe, doch dann zeigt man nur sich selbst und sieht nur sich selbst und bekommt keine Antwort.

Auf sich zurückgeworfen ist man, der Geist projiziert sich auf sich selbst, beobachtet sich andauernd selbst und versäumt die Gelegenheit, sich in der Umwelt zu finden, sich von ihr betören und bezaubern zu lassen. Goethe und Schiller waren immer ungeheuer präsent, beobachteten sich selbst, was jedem Erlebnis im Weg steht. Eichendorffs Gestalten verlieren sich und lassen sich betören, treiben ab; dieser Antisubjektivismus, wie das Adorno nannte (siehe den nächsten Beitrag), ist das Gegenteil des heutigen penentranten Hierseins.

Da ist eine Angst, sich zu verlieren, was ein Hindernis dafür ist, lieben zu können. Nur wer sich selbst liebt, kann andere lieben, aber auf dem eigenen Selbstbild muss genug Platz sein für anderes, das man lieben kann.

Ein Kommentar zu “Ich und der Petersdom”

  1. Regina

    das „Wegbringen und Abholen der Urlaubsphotos“ war immer ganz besonders und gut, dass das Interesse abflaut, wenn die digitale Welt übernimmt… Die Idee mit den weißen Gesichtern vorm Petersdom ist amusesant! Lieben Gruß Gina