Ausreißversuche

00520. Januar. Vor einem Jahr bekam meine Mutter nach drei schwierigen Monaten im Heim ein Einzelzimmer, exakt am 90. Geburtstag meines Vaters, und triumphal ging die Sonne hinter dem Städtchen unter. Eine Ampel zeigte auf Grün. Das war kein Zufall. An einem anderen 20. Januar (2006) begann ich eine Kolumne in der Kritischen Ausgabe Plus. Sechseinhalb Jahre habe ich sie gefüllt, das ist lange her, aber an einige Beiträge soll hier erinnert werden. Ich war aus Spanien zurückgekommen und plante mit Helmut manipogo, und da war es natürlich, die Ausreißversuche einzustellen, die irgendwie – Stefan Andres aus Leverkusen hat es gesagt – eine Vorform meines Blogs waren.

Einmal schrieb ich über Manfred von Hohenstaufen, meinen großen Vorfahr, für den ich ihn halte. Gleich am Anfang erwähnte ich Manfredonia, und der Gedanke ist noch in mir. Das Projekt ist jedoch ein paar Jahre in die Zukunft verschoben worden. Hängt davon ab, ob man noch Aufenthalt auf Erden hat, und meine Mutter würde ich auch nie alleine lassen. Doch als ich noch einmal über einen geeigneten Platz für die ltzten Jahre nachdachte, landete ich immer bei Manfredonia: Es liegt am Meer, an der Adria, und da sieht man den Sonnenaufgang, was schöner ist, als jedes Mal wie am Tyrrhenischen Meer in die untergehende Sonne zu blicken; Rom ist nicht allzu weit weg, ein paar Stunden mit dem Zug; auf dem Gargano kann man gut radfahren und auch Steigungen erklimmern, und wenn man mehr will, nimmt man einen Zug in die Abruzzen, eineinhalb Stunden entfernt. Man braucht ein Apartment mit Blick aufs Meer, klar, und eine Stadt soll es sein. 57.000 Einwohner, gerade richtig, und Manfred hat die Ansiedlung 701 Jahre vor meiner Geburt gegründet.

An der Adria. Fu dove il ponte di legno (Montale).

An der Adria. Fu dove il ponte di legno (Montale).

Gelungen finde ich auch den Beitrag über Takeshi Kitano. Sein Film Der Sommer von Kikujiro kann mich immer noch rühren. Joe Hisaishi hat die Musik dazu gespielt; seine Live-Aufnahme wurde 8,8 Millionen Mal abgerufen. Im Film geht es um einen kleinen Jungen, der sich in den Sommerferien einsam fühlt und seine Mutter sucht, und Takeshi begleitet ihn und unterhält ihn mit viel Blödsinn. Da gibt es auch eine Szene, wo er seine Mutter im Heim besucht, und da sitzt sie am Fenster und erkennt ihn kaum.

Und dann der Bibliotheken-Engel! Ihn erlebe ich immer wieder, und man kann versuchen, spontan ein Buch aus seiner Bibliothek zu holen (wie groß oder klein sie sein mag), es an beliebiger Stelle aufzuschlagen – und oft wird man getroffen sein, wie genau der Satz, den man liest, zum eigenen Problem oder zur Lebenslage passt. Wenn man an einer Arbeit sitzt, kommen einem manchmal Werke entgegen, die man braucht; und immer, wenn man denkt, was das für ein Zufall war, dass diese Quelle unbedingt nötig war, dann hat eine andere Dimension eingegriffen.

Why Can’t We Live Together ist ein Song aus dem ersten Album von Sade, Diamond Life hieß es. Diamantleben habe ich den Artikel genannt, und später merkte ich, dass gerade der mathematische Aufbau des Songs mir so gefällt. Da kommen Herz und Hirn zusammen. Ich habe sie dann 1989 live in Hamburg erlebt und erinnere mich noch an die vielen Farben hinter ihr an einer Leinwand, grün, gelb und blau leuchtete das, und der Bass von Paul Denman (in meinem Jahr geboren, 1957) klingt hart und spröde, und wenn ich so nachdenke, halte ich Bass und Schlagzeug für am wichtigsten in der Rockmusik. Sie war unser Sound, aber dann ging alles im Kommerz unter, und ich finde es grauenhaft, dass die Rolling Stones – vier reiche alte Männer – immer noch ihren alten Käse in riesigen Stadien vor begeisterten Besuchern präsentieren.

Dann gab es noch Im Zwielicht der Selbstverhüllung, worin es um Pirandello und Unamuno geht, und der erste Satz ist wirklich glanzvoll:

Der riesige Autobus mit seinem Anhänger glitt wie ein Schiff durch die schwarze Nacht und schlingerte sanft an anderen 40-Tonner-Schiffen vorüber, und wer auf dem Oberdeck seinen Platz hatte, konnte auch meinen, es gehe im Tiefflug übers schlafende Land.

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Und zu guter Letzt noch den ersten Artikel, Zackig!, mit dem am 20. Januar 2006 die Kolumne begann. Damals war noch nicht abzusehen, dass zehn Jahre danach das Verlagswesen und die Fernsehprogramme zu einer Monokultur werden würden: nur noch Krimis. Ein Mitglied des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club) hat auch kürzlich einen Fahrradkrimi veröffentlicht, dessen Ermittler selbst verdächtigt wird und – Manfred heißt. Titel: Felgenkiller, Autor: Thomas Maria Claßen, erhältlich im Buchhandel für 12 Euro.

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