Heilige Sexualität

Papst Innozenz III. erklärte Anfang des 12. Jahrhunderts: »Der sexuelle Akt ist an sich derart schändlich, dass er auch innerlich schlecht ist.« Die jüdischen Mystiker und Kabbalisten dachten schon damals anders: Für sie war Sexualität eine Vereinigung, die in die göttliche Welt hinein- und hinüberwirken konnte.

Vor einem Jahr hatte ich aus Pont St. Esprit berichtet und aus Vauvert bei Nîmes, dem mittelalterlichen Posquières, in dem die erste offizielle Kabbala-Schule entstand. Ich war mit dem Buch Shaare Ora (Tore des Lichts) von Rabbi Joseph Gikatilla (1248-1325) dorthin gefahren und hatte es am Originalschauplatz studiert.

Gesehen in Pont St. Esprit

Gesehen in Pont St. Esprit

Vor ein paar Wochen fiel mir das Buch Lettre sur la Sainteté (Brief über die Heiligkeit) auf, in dem es um Mann und Frau ging. Es soll 1290 entstanden sein, und Charles Mopsik, ein französischer Gelehrter (1956-2003), hatte es analysiert. Und ohne es gewusst zu haben, hielt ich damit – ein Jahr nach Shaare Ora – das Nachfolgewerk Rabbi Joseph Gikatillas in Händen, den Mopsik für den Autor hielt. Das war wieder einmal magisch.

Wie das so ist: der Text der Lettre ist nur 30 Seiten lang, die Einleitung und Hinführung 200 Seiten. Dieses Werk des Rabbis soll das erste Kabbala-Buch gewesen sein, das viele Leser hatte; kein Wunder, schon damals interessierte man sich für das ewige Thema Mann und Frau. Der letzte Satz der Einführung ist schlüssig: »Dass das erste Werk eines Kabbalisten, das Popularität erlangte und sich weit verbreitete, als Thema das Geheimnis der Beziehung zwischen Mann und Frau hatte, ist bereits vielsagend und einer der positiven Aspekte der jüdischen Mystik.«

Oberhalb von Zürich

Oberhalb von Zürich

Der Mann soll eine Frau haben (und umgekehrt); es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Die beiden wollen sich vereinigen und sollen das auch, aber sie sollen das nicht zu oft tun. Der »offizielle« Termin ist die Nacht auf den Sabbat, am besten die erste Stunde nach Mitternacht.

Niemals solle der Mann Gewalt ausüben. Mit lieblichen Worten solle er die Frau betören, denn nur wenn Liebe, Verständnis und Freiheit herrschen, ist die Vereinigung von Segen. Ja, man soll sogar während des Akts hohe Gedanken hegen, dann ist die Schekhina (Gottes Anwesenheit auf Erden) bei beiden, und Segen regiert. Wenn sich die Liebenden jedoch vergessen und allzu leidenschaftlich werden, dann – sagt der Rabbi – werden sie zu esch esch (zu Feuer), und die Schekhina geht fort.

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Alle Organe des Menschen seien heilig, lehrten die jüdischen Mystiker. Der sexuelle Akt galt ihnen als lebensspendend (natürlich sollten Kinder geboren werden; wer kein Kind hatte, war minderwertig). Im Vergleich dazu betrachten die Tantriker die Ejakulation als einen Tod, den sie zu vermeiden trachten; der Same soll ins Innere geleitet werden und die innere Erleuchtung antreiben.

Die menchliche sexuelle Vereinigung hat Einfluss auf die oberen Welten und vollzieht die Hochzeit zwischen dem Sabbat und Knesseth Israel nach sowie die Vereinigung zwischen Chokhma (Weisheit) und Bina (Unterscheidung), zweier hochstehender Sefirot (Namen oder Ausdrucksweisen des Allerhöchsten Prinzips). Erst durch die Erkenntnis/das Wissen (Daat) kommen diese beiden zusammen. Sie erkannten einander, heißt es in der Bibel.

 

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