Zio Lillo

Wir sind traurig. Zio Lillo ist gestorben. Er war zwar Giovannas Onkel, nicht der meine; aber irgendwie doch auch meiner. Ein echter Römer war er, unsagbar stolz auf seine Stadt und gelassen sich durchkämpfend durch die Widrigkeiten des Alltags; ja, er war einer dieser Löwen des Alltags, die immer Rat parat haben, Achille Gioggi, 1938 im Januar im Testaccio-Viertel geboren, am Samstag gestorben, 75 Jahre alt. Ein feiner Mensch.

Vor über sieben Jahren hatte man bei ihm Leukämie festgestellt, und dann fingen die Behandlungen an. Die Knochen wurden morsch. Er musste ein Korsett tragen, verlor seine Zähne, konnte nicht mehr laufen. Vergangenen Oktober hatte ich ihn aus meiner Stammkneipe noch angerufen, und er sagte mit seiner sonoren, ruhigen Stimme, man müsse kämpfen, dürfe sich nicht hängen lassen.

 

Lillo links, an Ostern 2006

 

Aber dann bekam er eine Lungenentzündung, und man musste ihn in ein Heim für Todkranke verlegen. Dort fiel er am Samstag ins Koma. Ich war vorbereitet und schrieb diesen Artikel, da es nur eine Frage der Zeit war; und gerade als ich das Bild mit ihm herunterladen und einplanen wollte, gerade da, Samstag um 18.40 Uhr, — kam Giovannas Anruf.

Sein Übergang ist also vollzogen; seine alte Mutter, die mit über 90 Jahren gestorben war, wird ihn in der Geistigen Welt erwartet haben. Schade, dass er nicht mehr in unserer Welt ist. Ciao Lillo, und danke für alles! 

Als wir 1999 nach Rom ziehen wollten, hatten Lillo und Zia (Tante) Gabriella ein paar Wohnungen vorbesichtigt, wir kamen mit dem Flugzeug und klapperten die Objekte ab. Und bevor wir die letzte Wohnung anschauten, eine großzügige Dachwohnung mit zwei Terrassen im Montverde-Viertel, zwinkerte er mir zu, wie nur er es konnte, und das sollte heißen: Das ist toll, werdet ihr gleich sehen! — Es war perfekt.  

Blick in diese schöne Wohnung, Monteverde nuovo

Achille und Gabriella wohnten an der Circonvallazione Clodia, an dieser großen Straße im vierten Stock mit Blick auf den Monte Mario, und Sonntag nachmittag kamen um drei Uhr immer die beiden Busse vorbei, die die Fußballspieler des AS Rom (darunter Francesco Totti) und die Auswärtsmannschaft ins nahe gelegene Olympiastadion brachten, begleitet von Polizei. In dieser etwas dunklen Wohnung, die im heißen Sommer zu einem Brutofen werden konnte, waren Giovanna und ich oft eingeladen zum Mittagessen, und ich auch später noch alleine.  

Es hat ihm immer so geschmeckt, Achille aß gern, und am Ende hat er immer den großen Topf an sich gezogen und den Rest der Pasta herausgelöffelt. Dann zwinkerte er mir immer zu und fragte, ob ich nach dem Kaffee nicht vielleicht noch eine Grappa oder einen Whisky wolle; und danach fuhr ich, satt und zufrieden, mit dem Rad wieder ab. Er war ja pensioniert, hatte sein Arbeitsleben bei einer Versicherung verbracht, und die Tage vergingen ihm mit Besuchen bei Ärzten und beim Einkaufen – wie oft sind wir über die Märkte geschlendert! -, und wenn es ein Problem gab, half er immer.  

Man ging neben ihm her durch die Innenstadt, und er war immer in gehobener Stimmung, als wollte er sagen: Hier, mein Rom! Ich lege es euch zu Füßen! Ist das nicht eine Stadt? − Mit ihm erlebte ich auch lustige Episoden. Einmal saßen wir im Wohnzimmer, und auf dem Fernsehschirm endete gerade eine Etappe des Giro d’Italia, die Rennfahrer jagten auf das Zielband zu, als Lillo plötzlich laut aufschrie: »Ah! Ah!« Gabriella beruhigte uns: nur ein Krampf in der Wade. Sie massierte ihn. Die Rennfahrer schossen nach 200 Kilometern durchs Ziel, und Achille hatte einen Krampf! Eine Weile ist er sogar Rad gefahren, mit einem Mountain-Bike durch den Park von Villa Borghese.   

Einmal wollten wir in den Supermarkt, und Lillo meinte, wir könnten ja das Auto nehmen. Wir fuhren also die 200 Meter mit dem Auto, aber dann gab es keinen Parkplatz, und wir mussten wieder zurück, 150 Meter zurück, und parkten da. So hatten wir immerhin 50 Meter gespart. Einen schönen Ausflug nach Tivoli haben wir mit ihnen gemacht.

Er hat mir auch viel beigebracht. Geduldig erklärte er mir den Ausdruck »li mortacci tuoi«, typisch romanesca, was ursprünglich eine Beleidigung war und die Toten der Familie (mortacci) des anderen abwerten sollte, aber dann zu einer Redewendung wurde, die Erstaunen und Verblüffung ausdrückt, etwa wie »da legst di nieda« auf Bayerisch. Li mortacci.  

Da gibt es in dem Buch »Leben nach dem Tod: der schlüssige Beweis« eine kurze, etwas sentimentale Sentenz, die ich so übersetzt habe: 

Und immer bei uns, gleichwohl unsichtbar,
Ist unsrer lieben Geister unsterbliches Licht.
Das unbegrenzte Universum lebt, und eins ist wahr:
Die Toten gibt es nicht!

Achille Gioggi ist nun dort drüben, er, der echteste Römer, den ich kannte und wie ich ihn heute noch sehe, rätselhaft in seiner Ruhe und zeitlos, ein Fels in der Brandung, ein liebenswerter Mensch.

 

 

 

Ein Kommentar zu “Zio Lillo”

  1. Christine

    Sehr schön und sensibel, lieber Manfred, dieser Nachruf auf Giovannas Onkel. Erst vor einer Woche hatte sie mir von ihm erzählt und welchen Durchhaltewillen er hatte.
    Ciao, Christine