Abend vor der Stadt

Jiddu Krishnamurti wurde 1895 in Südindien geboren und starb 1986. Er hat sich selbst als »Weltlehrer« bezeichnet. Ich zitiere ihn gern, auch weil sein Name schön klingt. Und mir gefällt es, wie behutsam er mit den Leuten spricht, die zu ihm kommen. Eigentlich denkt er nur nach und benützt die Besucher als Stichwortgeber. Man kann ja immer nur hoffen, dass ein Satz hängen bleibt, auf fruchtbaren Boden fällt, Früchte trägt. 

Waren Krishnamurtis Lehren wirklich unmöglich zu praktizieren, lebte er sie selber nicht, hatte wirklich er kein Mitgefühl? So wird bei Wikipedia kritisiert. Wir wissen es nicht. Was ein Guru sagt, ist immer radikal, und so radikal, dass er selbst daran scheitern muss. Dann kommen diese ganzen Leute; da kann man schon mal ungeduldig werden (bei einem anderen Gesprächsband ist mir auch aufgefallen, dass Krishnamurti manchmal recht aggressiv wird). Und manche Weisheitslehrer kommen mit der Bewunderung nicht zurecht und benehmen sich dann wie Patriarchen, und manchmal werden sie auch schwach; und wer würde das nicht werden, wenn schöne Frauen ihn anschwärmen?      

Wieder eine schöne Stelle aus dem Buch von 1980.  

»Die Straße führte südlich aus der lauten, geschäftigen Stadt mit ihren scheinbar endlosen Reihen von neuen Häusern hinaus. Die Straße war übervoll mit Bussen, Autos und Ochsenkarren sowie mit Hunderten Radfahrern, die von ihren Büros heimfuhren und müde aussahen nach einem langen Tag mit den üblichen Tätigkeiten, die in ihnen kein Interesse wecken konnten. Viele hielten an einem Markt entlang der Straße an, um welkes Gemüse einzukaufen.  

Als wir weiter durch die Außenbezirke der Stadt gingen, standen schöne grüne Bäume zu beiden Seiten der Straße, die wegen der starken Regenfälle wie sauber gewaschen aussahen. Die Sonne ging rechts von uns unter; sie war ein großer goldener Ball über den entfernten Hügeln. Viele Ziegen gab es unter den Bäumen, und Kinder jagten hintereinander her. Die gewundene Straße ging an einem Turm aus dem elften Jahrhundert vorbei, der rot und erhaben zwischen Ruinen der Hindus und Moguls stand. Die Gegend war mit alten Gräbern gesprenkelt, und ein glanzvoller, halb verfallener Bogengang sprach vom Ruhm längst vergangener Zeiten.  

Das Auto hielt an, und wir gingen die Straße entlang. Eine Gruppe zu Fuß kam von ihrer Arbeit auf den Feldern zurück; es waren alles Frauen, und nach einem langen Tag mit harter Arbeit sangen sie ein fröhliches Lied. In dieser friedlichen Szenerie klangen ihre Stimmen klar, volltönend und vergnügt. Als wir näherkamen, hörten sie schüchtern mit Singen auf, aber sobald wir vorbei waren, nahmen sie es wieder auf. 

Zwischen den sanften Schwüngen der Hügel lag das Abendlicht, und die Bäume hoben sich dunkel gegen den abendlichen Himmel ab. Auf einem hohen, auffallenden Felsen standen die zerfallenden Brustwehre einer alten Festung. Eine erstaunliche Schönheit lag auf dem Land; sie war um uns her, füllte jede Nische und jeden Winkel dieser Erde und auch die dunklen Schlupfwinkel unserer Herzen und unseres Geistes. Es gibt nur Liebe; nicht die Liebe Gottes oder die menschliche Liebe; sie sind nicht zu trennen. Eine große Eule flog still am Mond vorbei, und eine Gruppe von Dorfbewohnern redete und debattierte laut, ob man ins Kino in der Stadt fahren solle; sie waren ungehobelt und aggressiv und nahmen die Hälfte der Straße ein.       

Es ging sich angenehm im weichen Mondlicht, und die Schatten auf der Erde waren klar und scharf geschnitten. Ein Lastwagen ratterte auf der Straße dahin und ließ drohend seine Hupe ertönen; aber er war bald vorbei und überließ die Landschaft der Anmut des Abends und ihrer immensen Einsamkeit.«  

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