Angst vor dem Licht

Das Tibetische Totenbuch – schwierige Sache. Es ist eine Welt, die uns fremd ist. Die Bilderwelt schockiert uns, denn nach dem Tod tritt da jeden Tag eine andere Gottheit auf mit einem anderen grellen strahlenden Licht, und sie hat manchmal acht Arme und sechs Beine, und einmal kommen auch die bluttrinkenden Gottheiten, und das wirkt wie einem Bild von Hieronymus Bosch entnommen.

Nach dem Tod tritt man bei den Tibetern in den Bardo-Zustand ein. Es ist ein Grenzzustand. Am vierten Tag danach tritt Vairocana auf in grellem blauem Licht – aber da gibt es auch als Rettung das sanfte weiße Licht der Götter; und am fünften Tag lockt einen das mild-rauchige Licht der Höllenwesen, weil das strahlend weiße Licht des Vajrasattva kaum zu ertragen ist. Jeder neue Tag bringt eine neue Chance, sich der Wahrheit zu stellen − oder sich zu verdrücken.  

Dem Verstorbenen wird ein Text vorgelesen, in dem es heißt: »Nun strahlt der reine Glanz der Dharmata vor dir; erkenne ihn!« Leere und Glanz; die Leere kommt vom weiblichen Buddha Samantabhadri, der Glanz und das Vibrieren vom männlichen Buddha Samantabhadra. »Dieser dein Geist ist untrennbar Glanz und Leere in der Form einer Überfülle von Licht, er kennt nicht Geburt noch Tod, darum ist er der Buddha des Unsterblichen Lichts. Dies zu erkennen, ist das einzig Nötige. Erkennst du dieses reine Wesen deines Geistes als den Buddha, so ist das Schauen deines eigenen Geistes das Ruhen im Buddha-Geist.« 

Botschaft (Rolf Hannes)

Und man betet: »O steht mir bei auf der gefährlichen Gratwanderung des Bardo, geleitet mich zur vollkommenen Buddhaschaft.« Wesentlich sei, »mit Sicherheit zu erkennen, dass alles was erscheint, wie erschreckend es auch sein mag, deine eigene Projektion ist«. Wenn man das nicht erkennt, wird man lange herumirren. Die Welt nach dem Tod ist eine geistige Welt, etwa wie im Traum. Ich bewege mich zunächst in einem eigenen Universum, das ich mir selbst geschaffen habe. Wie im Traum könnte ich auf Monster treffen, aber es sind die Monster in mir, und ich kann sie auch bekämpfen. Je entschiedener ich im Leben meine Probleme bewältigt habe, desto freier bin ich dort.  

Das strahlende Licht ist das Göttliche in dir, und wenn du Sehnsucht danach verspürst, dich mit ihm zu vereinen, wirst du mutig hineingehen. Das ist die Befreiung. Das Licht steht auch für Bewusstsein. Wissen wollen ohne Kompromisse! Wenn du Angst hast und kleinmütig bist, wirst du dich ins mild-rauchige Licht schleichen; aber die Schatten müssen vertrieben werden, es gibt keinen Ausweg. Man weiß ja, was einem Angst bereitet, was einen hemmt; was man aber hier nicht aufgearbeitet hat, erwartet einen dort. Darum ans Werk.

Ein Kommentar zu “Angst vor dem Licht”

  1. Regina

    und dazu der schöne Spruch von Conrad Ferdinand Meyer:

    „je schwerer sich ein Erdensohn befreit, je mächt`ger rührt er unsere Menschlichkeit“.

    Schönen Abend und ciao, Regina