Richard Wolke

Es müsste eigentlich René Schickele oben stehen, aber da er als Ich-Erzähler in seinem letzten Roman Die Flaschenpost den Namen Wolke wählt, nehmen wir ihn zum Titel. Die Flaschenpost ist ein Manuskript (der Roman dann), das der Erzähler seinem Bruder bei dessen letztem Besuch in der Psychiatrie mitgibt.

Wir waren ja beim Komplex Psychiatrie angelangt (Krankensaal sechs), der mich seit jeher interessiert. Wie meinte Gao Xingjan über China? Man kann mitspielen, oder aber man wird Künstler oder mimt den Verrückten. In manchen Kulturen konnte man Medizinmann oder Schamane werden, und das war auch eine Karriere für psychisch labile Menschen.

René Schickele bedeutet mir viel. Er kam 1883 in Obernai bei Strassburg zur Welt, landete 1921 hier nebenan, in Badenweiler, baute sich ein Haus (Schmitthenner plante es)  und blieb zehn Jahre, bis die Nazis kamen. Er war Pazifist, setzte sich als Journalist (und Elsässer) für die deutsch-französische Freundschaft ein, gab die Weißen Blätter heraus und schrieb Romane. In Sanary-sur-Mer bei Toulon fand er ein Haus, und da starb er im Januar 1940.

Am Ende seines Lebens befürchtete er, die Nationalsozialisten würden 10 bis 15 Jahre bleiben, und er war entsetzt darüber, dass sich der Krieg abzeichnete. Also schrieb er 1937 noch die Flaschenpost. Richard Wolke, ein Amerikaner, lebt als stadtbekannter Sonderling in einem südfranzösischen Ort. Im Laufe des Romans erschießt er einen Mörder und Anarchisten, dessen Freundin er liebt. Man verurteilt ihn nicht zu Haft, sondern zur psychiatrischen Anstalt.

Er sagt dem Psychiater, er simuliere, und dieser antwortet: »Sie simulieren, dass Sie simulieren.« Was weiß man? Robert Walser, der Schweizer Dichter, war zum Beispiel gewiss nicht verrückt; er war nur arm und wollte in Ruhe gelassen werden. Der letzte Satz der Flaschenpost: »Ich will endlich allein sein.«

Wolke sieht, dass alles auf den Krieg zutreibt und sagt sich: »Die Menschen wollen Selbstmord begehen und trotzdem weiterleben.« Er überlegt: »Von Geburt an sind die meisten Menschen geistig gesund. Allein da gibt es etwas in der Natur, das die Alten den panischen Schrecken hießen. Kraft dieser Gleichgewichtsstörung … sind gewisse Personen imstande, aus den gutmütigen und vernünftigen Wesen in ihrer Umgebung im Handumdrehn Irrsinnige zu machen. Dann scharen sie sich zusammen, ziehen los, fallen über andre her, die im Nu von der gleichen Schreckenswut ergriffen werden, plündern, quälen, schinden, brandschatzen, morden und begehn mit dem besten Gewissen der Welt jede denkbare Gemeinheit.«

»Die Menschen leben in ständiger Angst voreinander. Sie könnten sie nicht ertragen, wenn sie sich nicht von Zeit zu Zeit Luft machten, indem sie über einen gemeinsamen Feind herfallen. Denn geteilte Angst ist nur halbe Angst. Unsere Zivilisation beruht auf dem Verschweigen der Tatsache, dass die Gesunden unter dem Knüppel eines Häufleins besonders begabter Irrsinniger leben.«

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