Lehnstuhlreisen

Ich reise wirklich gern, aber derzeit genieße ich eine häusliche Phase. In meiner Buchhandlung fand ich einen jener schönen Prestel-Führer: über Venedig, 1965. Ich hätte mich mit ihm in einen Lehnstuhl gesetzt, besäße ich einen; so war’s ein Sofa, auf dem ich als ersten Satz des Autors Hugh Honour las: »Dieses Buch ist für den Besucher Venedigs bestimmt und nicht für den Lehnstuhl-Reisenden.« Spielverderber.  

Zu Hause erlebe ich Glücksmomente mit Büchern und Gedanken, und manchmal packt mich geradezu eine geistige Erregung. Auf Reisen ist so etwas selten; da gibt es Zufriedenheits- und Überraschungsmomente, und fast muss ich Joachim Fest recht geben, der in seinem Italien-Tagebuch von 1988 schrieb, Reisen laufe meist auf »verschiedene Arten des Vorbeifahrens« hinaus. Man schaut, redet manchmal, fotografiert, fährt weiter.  

Der Ausdruck »Armchair travelling« kommt gewiss aus England, wo man früher mit langstieligen Pfeifen in weichen dunklen Ledersesseln saß, in die man so tief hineinsank, dass man unsichtbar war für die Außenwelt (weshalb auch der Tod manches alten Lords in einem Club erst Tage danach bemerkt wurde). Ich weiß noch, dass ich als 14-Jähriger Sehnsucht nach Reisen hatte. Ich entlieh mir einen Prestel-Reiseführer über London und las ihn so langsam durch wie fast nie mehr ein Buch hinterher; ich versuchte, dort zu sein und mir alles genau vorzustellen. Es war schön. (Noch schöner: dort zu sein und zu lesen.) 

Reisende liest vor Nauplion über Nauplion (1996)

Karl May war einer der größten Lehnstuhl-Reisenden aller Zeiten, und er schaffte es, seine Reisen auch noch einem nach Millionen zählenden Lesepublikum glaubhaft zu verkaufen. Anfang September besuchte ich in der Universitätsbibliothek Heidelberg eine Ausstellung, und in einer Vitrine stand ein Text, den ich mir gleich abschrieb: 

»Der Amsterdamer Gelehrte Olfert Depper (1636−1689) hatte die Niederlande anscheinend nie verlassen. Mit seinen Berichten begründete er dennoch die Afrikanistik. ›Beschreibung von Afrika‹ bietet die seiner Zeit vollständigste Übersicht antiker und zeitgenössischer Autoren, der Korrespondenz mit Gelehrten, mündlicher Reiseberichte sowie der Auswertung von Karten- und Bildmaterial. — Viele Informationen zu Schwarzafrika wurden erstmals bei Depper publiziert, zum Teil wurden sie erst 250 Jahre später durch ethnologische Feldforschung bestätigt.« 

Globus von 1751. Aus der Heidelberger Ausstellung

Heute, 350 Jahre später, haben wir einen unendlichen Reichtum von Daten im Wohnzimmer. Wir reisen nur noch aus Langeweile. Wenn das Lehnstuhlreisen wieder in Mode kommen würde, wären die ICEs, die Flugzeuge und die Autobahnen nicht mehr so voll.

 Wir würden im Raum unseres Bewusstseins reisen, von dem wir ja, das ist ähnlich wie beim Schlaf, gar nicht so viel wissen. Die außerkörperlichen Reisen (Out-of-Body-Experiences) zeigen, dass man mit einem Duplikat seines Körpers sich ebenso gut fortbewegen und sich in anderen Dimensionen oder auch auf unserem guten alten Planeten umtun kann. Doch bis diese Reiseform genügend entwickelt ist, werden wohl noch weitere 350 Jahre vergehen.    

 

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