Ein in der Luft schwebendes Band

Ich schreibe oft über die Liebe und kann dabei zuweilen – achtlos und leichtfertig, wie ich bin – ganz schön lieblos sein. Meine Güte. Lesen wir eine Seite aus dem Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil (1882-1942). Seine lauteren und durchdachten Sätze tragen uns davon.

Es geht um die Liebe. Ulrich und seine Zwillingsschwester Agathe sind sich begegnet und lieben sich. Erwähnt fand ich die beiden in Hillel Schwarz‘ Buch The Culture of the Copy, in dem er auch über Zwillinge schreibt.

Jeder hat anscheinend eine Twin Soul, eine Zwillingsseele, mit der zusammen er aufgebrochen ist in die vielen Reinkarnationen und die er wiedertreffen wird; dass dies auf Erden sein wird, sei jedoch, wie manche Medien warnenn, unwahrscheinlich. Meistens wartet die eigene Zwillingsseele in der anderen Dimension. Die Seelengefährten (Soul Mates) können mehrere sein. Sie haben einen durch viele Inkarnationen begleitet. Ulrich und Agathe (etwas wie Omega und Alpha)  verkörpern die Hoffnung, hier auf Erden auf seine Zwillingsseele zu stoßen, und dann wird es ernst …

Stundenglas für Verliebte. Illustration von Rolf Hannes

Sie erinnerte sich daran, dass sie zeitlebens in lauter vorbeirinnenden Umgebungen geglaubt hatte, hoffnungslos die gleiche zu bleiben; sie hatte sich nie aus eigenem Vorsatz ändern können, und doch war jetzt als Geschenk ohne jede Bemühung an die Stelle von Verdruss und Ekel ein von Sommerkräften getragenes Schweben getreten. Dankbar sagte sie zu Ulrich: »Mich hast du zu dem gemacht, was ich bin, weil du mich liebst!«
Ihre Hände, die verschlungen gewesen waren, hatten sich gelöst und ruhten nun nur noch mit den Fingerspitzen aneinander; jetzt erwachten diese Hände wieder zu Bewusstsein, und Ulrich umfasste mit der seinen die seiner Schwester. »Mich hast du ganz verändert« erwiderte er. »Ich habe vielleicht Einfluss auf dich, aber dabei bist es doch nur du, die gleichsam durch mich fließt!«
Agathe schmiegte ihre Hand an die umfassende. »Eigentlich kennst du mich gar nicht!« sagte sie.
»An Menschenkenntnis liegt mir nichts« erwiderte Ulrich. »Das einzige, was man von einem Menschen wissen soll, ist es, ob er unsere Gedanken fruchtbar macht. Es sollte keine andere Menschenkenntnis geben als diese!«
Agathe fragte: »Wie bin ich dann aber wirklich?«
»Du bist überhaupt nicht wirklich« erwiderte Ulrich lachend. »Ich sehe dich, wie ich dich brauche, und du machst mich, was ich brauche, sehen. Wer vermöchte da leicht zu sagen, wo das Ursprüngliche und Gründende ist. Wir sind ein in der Luft schwebendes Band.«
Agathe lachte auf und fragte: »Wenn ich dich enttäusche, wirst also du schuld haben?«
»Ohne Zweifel« sagte Ulrich. »Denn es gibt Höhen, wo es keinen Sinn hat, zu unterscheiden
zwischen: Ich habe mich in dir geirrt, und: Ich habe mich in mir selbst geirrt. Zum Beispiel die des Glaubens, die der Liebe, die der Großmut. Wer aus Großmut handelt, oder, wie man auch sagt, aus Größe, der fragt nicht nach Täuschung, noch nach Sicherheit. Er darf sogar manches nicht wissen wollen, er wagt den Sprung über die Unwahrheit …«

(aus dem Kapitel: Versuche, ein Scheusal zu lieben. Entwurf. – Der Mann ohne Eigenschaften, Europ. Buchklub Stuttgart, Zürich, Salzburg 1960, S. 1177/1178)

 

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