Das Jahrhundertrennen (9)

Die neunte Folge schon. Wir werden in Karlsruhe ja 400 Teilnehmer sein, das ist schier unüberblickbar, und vieleicht gelingt es mir, da und dort daraus vorzulesen. Die Museen heute. Das ist ziemlich überlegt geschrieben, das hat mich beansprucht, ich erinnere mich. Und der Dialog zwischen Steisbein und Rudi, der ist ein Wunder. Eine kürzere Folge.

Am Friedhof

Während im Verkehrsmuseum sich Historisches vollzog,
waren die bunten, fremden Radler längst am Friedhof angelangt.
Passanten hielten ihren Zug für eine Emigranten-Demo, doch das trog,
kein Radler trug ein Transparent, kein Spruchband prangt.
Die Raga-Meister waren traurig, ihre Instrumente
Blieben in dem Sarg am Schloss, behielt sie doch die Polizei.
Als Trost war auf nem Tandem Gottlieb Stellmach, knapp vor seiner Rente
und spielte auf der Ziehharmonika so manchen Marsch, zwei, drei!
Das gab dem Umzug unsrer schönen Fremden eine irreale Note.
Ram, Sapad und Har mussten da leiden. „Klingt ja wie Wurstsalat“,
sagten sie bei sich, „Wer erträgt die deutschen Märsche, höchstens Tote.“
Manch einer wünschte sich glatt einen Mordanschlag, ein Attentat.
Mahindi hatte Geisterseherin Miranda in die Rikscha eingeladen.
Bellaire fuhr stolz ihr Blumen-Rad und ignorierte Wladimir.
Steve zeigte seine Muskeln, eingeölt, und seine starken Waden.
Miranda rief dem Fahrer zu: „Rechts, siehst du ihn? Marco ist hier!“

Die Reise dieser dreißig kam mehrmals zu einem unerwünschten Halt.
Es gab nicht Angriffe und Gegendemos, sondern Fahrradpannen.
Drei platte Reifen auf drei Kilometern, ach, es fehlte halt
ein guter Schrauber wie Claude, Steisbein oder Terezin. Von dannen
ging’s nicht gleich. Es wurde länger und erregt dann diskutiert,
was nun zu tun sei. Werkzeug fehlte. Zum Glück halfen oft Passanten.
Ernst Wunder, Pierre Latigue und Sofia waren enerviert.
Die beiden fingen an zu streiten bös, als sie so lange standen.
Dann fuhr die Rotte wieder los. Erreicht schließlich auch das Portal
Des Hauptfriedhofs, nach scheinbar endlos langer Dauer.
Ernst Wunder meint: „Ich wusste es, wir schaffen es einmal.“
Der Polizeiwagen rast weg. Ein Mord? Die Insassen sind einfach sauer.

Die Tore stehn weit offen. Pluto auf dem Cruiser, mit dem langen Bart
nebst Sue und Rudi, stehn bereit, die Angekommenen gut zu empfangen.
„Wie schön, euch hier zu sehen. Hattet ihr auch eine gute Fahrt?“
fragt Rudi. „Wir dachten schon, ihr würdet nie hierher gelangen.“
Ernst Wunder sagt: „Da fehlt es an der deutschen Effizienz.“
Nun läutet Pluto, schreit: „The Dead are waiting. Follow me!“
Beim Drais bekommen Moslems, Hindus, Christen nun eine Audienz.
Er hat ja Zeit, bewegt sich fort von seiner Stele nie.
„Das Radfahren ist auf dem Hauptfriedhof leider verboten.
Jedoch ist das ne Ausnahme; und Pluto nimmts auf seine Kappe.
Die Seelen sind nicht hier auf diesem Spielplatz, alles ist Attrappe.
Und überhaupt, das Radeln hier nehmen nicht übel meine Toten.“
Zu fahren sind bloß fünfzig Meter, gerechnet von dem Tor.
Verzweigen sich zwei Wege, es öffnet sich ein Rasenstück.
Da sehen sie das Kunstwerk aufgerichtet, parken schon davor
Und scharen sich darum herum. Herr Pluto fährt zurück.

Karl-Heinz Steisbein steht ganz unauffällig hinten in der Reihe.
Keiner macht Anstalten, zu einer Rede auszuholen,
wo ist der junge Monsignore, für die Stelenweihe?
Streitet sich wohl mit Peppone oder betet mit dem Polen.
Der Historiker, den nun das Schweigen stört, tritt vor
Und sagt auf Englisch, ohne diesen deutschen „baron“
gäb es vielleicht das Fahrrad nicht. Der gute Mann, der reine Tor
(er nennt ihn „the good-hearted fool“) gehöre zu den großen Herren.
„Er hatte Mut und zeigte sich mit seinem hölzernen Gerät
Auf allen Straßen hier, alle lachten, als er kam, vom Wind gebläht
sein Kleid, er fuhr von Mannheim in das heutige Rheinau,
weit schneller als ein Wanderer, wie die gesengte Sau.
Ein ‚baron‘ wollte er nicht sein, erfand auch viele andere Geräte,
ein Fahrzeug, das auf Schienen fährt, und ja, was täte
man ohne ihn. Er hatte wenig Glück, starb arm.
Wir denken seiner; dass ihm Gott erbarm!“
Nun senken alle ihre Blicke, schweigen alle wieder.
Die Raga-Meister treten auf die grüne Wiese dann
und summen, singen ein paar indische Lieder.
Hassan stimmt danach ein kehlig-raues Lied der Wüste an.
Nie hat an solcher Stelle man solches gehört.
Es stehen manchen Tränen in den Augen,
so sehr hat sie die fremde Melodie betört.
Rudi flüstert Karl-Heinz zu „Das könnte taugen
als Höhepunkt des ganzen Festes.“ Nun wieder Stille,
intensiv wie ein lautes Gebet. Ein Vogel langsam nähert sich
und setzt sich oben auf die Stele, als wär es der Wille
einer göttlichen Instanz: Der Dank von Drais ist’s sicherlich.
Die Versammlung löst sich auf, fährt langsam und benommen
hinfort, begegnet einem aufgeregten Monsignore auf dem alten Rad,
der sich beeilt, dann doch etwas zu spät gekommen
und für den Drais an seinem Denkmal noch ein paar Segenswünsche hat.
Dann fährt auch er; und vor dem Denkmal stehn nur noch
Rudi und Karl-Heinz, Sue hält sich im Hintergrund.
Obgleich schon vieles wurd gesagt, drängt es die beiden doch,
sich auszutauschen, zu gehn den Dingen auf den Grund.

„Er war ein guter Mann“, sinniert Herr Steisbein, „Erfinder
wie er sind reine Seelen, sind oft reine Kinder.
Gab freiwillig den Freiherrn-Titel auf, die Preussen zwangen
ihn, ihn wieder anzunehmen, und man muss sagen, ihm gelangen
ganz große Würfe: mit der vierrädrigen Draisine,
die natürlich, wie man weiß, lief auf der Schiene,
war er, denk ich, dem Auto schon ganz nah gekommen.
Sein großes Werk: das Laufrad, das er selbst unter die Bein‘ genommen
und fuhr, obwohl die Leute grinsten, von Mannheim nach Schwetzingen hin,
für ihn war’s kurz, doch für die Menschheit war’s ein Hauptgewinn.“

Rudi denkt nach: „Schon komisch, dieses badische Patent,
das er im Januar achtzehn-achtzehn kriegt am End.
Ach ja, weißt du, dass ein Jahr später Goethe schrieb, es täten
sich Burschen um im ‚Paradies‘ von Jena mit den Laufgeräten?
Das Paradies, es war ein Park, und Goethe hat es miterlebt,
den Fortschritt sah er schon, die bürgerliche Welt, die strebt‘
nach immer mehr Macht, Reichtum, Schnelligkeit,
wie wahr, es kam so und ist so bis heut, in unsrer Zeit.
Das „Veloziferische“ war sein Begriff dafür mitunter,
velox für schnell, verbunden mit dem Luzifer, worunter
man den bösen Engel sieht, der gegen Gottes Herrschaft rebellierte.
Er kam mit lux, dem Licht, zum Menschen, den er so emanzipierte
wofür die Strafe kam, wie für Prometheus, der dem Menschen Feuer brachte
Und damit, sinnbildlich, Bewusstsein drin in ihm entfachte,
und Drais erging es ähnlich: Er wollte Bürger sein, nicht Freiherr Drais,
wofür die Preußen ihn bestraften, Drais, der sein Gerät setzte aufs Gleis.

Doch bleiben wir bei achtzehnachtzehn, da war er im Jesus-Alter,
in voller Kraft, ein nichtsahnender Welt-Beweger und -Gestalter.
Du rechne mal: die Quersumme der Jahreszahl ist: neun.
Dahinter steckt was, und davor ist nicht zurückzuscheu’n.
Die neunte Karte im Tarot, das ist der weise Mann, der Eremit,
mit der Laterne, einsam, auf dem Rad, das er stets fährt im Schritt.
Die Neun ist zudem jene Zahl, die einen Kreis beschreibt,
in esoterischen okkulten Lehren, und sie bleibt
die Zahl, die alle vorherigen in sich schließt;
die Zehn fängt einen neuen Zyklus an, hier haben im Tarot
wir unser Glücksrad, Sinnbild der Fortuna, ebenso
bei den Ägyptern Zeichen für Reinkarnation,
das Rad der Wiedergeburt bei den Hindus; auf dem Thron
inmitten dieses Rads: die Sonne. Das Leben spielt uns viele Tricks,
das Glücksrad steht darum für alle Wechselfälle des Geschicks.
Noch was: Du kennst die Namen Gottes, diese zehn, die Sefiroth
Von Krone Kether oben geht es über Hod und auch Yesod
Hinunter zu dem irdischen, geerdeten Malkuth,
in dem unsre gesamte Schöpfung ruht.
Der Lebensbaum der Kabbala ist auch ein Zyklus,
der als ein Rad die Schöpfung abbildet, den ganzen Rhythmus,
und alle Wege zwischen jeder Sefira und ihrer Nachbarin
sind wie die Speichen eines Rads: Wieviel Bedeutung ist darin!

Zurück zur Neun: Wir wissen, dass wir in einer neunten Offenbarung stehen,
im Wassermann-Zeitalter, und einem Sieg des Geists entgegensehen.
Die Neun, der Kreis: der ist natürlich auch das Rad,
das uns nach vorne trägt und als Symbol uns stets zur Seite trat.
Der Kreis ist unser Rad, der Fortschritt, die Vollkommenheit,
doch auch das Zyklische der Zeit, die weitergeht in Ewigkeit,
bis alles endet und dann wird erneut geboren,
denn, so kam mir aus einem Buch zu Ohren,
zu leben heißt, in Ewigkeit zu leben,
nicht jetzt, in neuen Körpern, und dem Geiste zuzustreben.
Das Leben ist entzückend, doch auch Lug und Trug,
vor allem ist es kurz: Es ist ein einz‘ger Atemzug
zwischen zwei langen Nächten, die aber wach wir dann verbringen,
in denen Seligkeit nur herrscht: Wir lachen und wir singen.“

Steisbein lächelt fein und sagt: „Ach Rudi, mag’s so sein!
Das sind riesige Entwürfe, dafür bin ich zu klein.“
„Das Kleine siegt!“ ruft Rudi. „Schau den Drais! Ein Mann,
der seinen Traum verfolgte, glücklich, wer das kann!
Ein paar mehr wollen wir von diesen schönen Exemplaren,
und wir werden Rad und noch was und viel besser fahren.“

Sie reichen sich gerührt die Hände.
Der Vogel fliegt nun auch davon. Und Sue ist auch gerührt.
Steisbein geht, die Zeremonie ist nun zu Ende.
Rudi geht zu Sue, die seine Hand ergreift und weg ihn führt.

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