Schul-Erinnerungen

Ganz ungeahnt flogen mich auf dem Fahrrad Erinnerungen an meine Schulzeit an. Ich glaube, ich dachte an die Nazis, und da stand mir wieder der Direktor des Graf-Rasso-Gymnasiums vor Augen, damals, 1970. Ich war 13 Jahre alt, und er jagte mir eine Höllenangst ein. War sicher ein alter Nazi gewesen.

Wer damals, 1970, um die 60 Jahre alt war wie manche unserer Lehrer, hatte die Zeit miterlebt. Und ihr Auftreten ließ – denke ich mir heute – darauf schließen, wie sie diese Zeit verbracht hatten. Da war der alte Lateinlehrer, der Furcht verbreitete, der hagere Turnlehrer, der manchmal Schülern nachlief und ihnen nachtrat, der einarmige Hausmeister und eben der Direktor.

Er war so, wie es in den 1950-er Jahren (und davor, bis zurück in die Wilhelminische Zeit) Autoritätspersonen waren: älterer Mann, etwas korpulent, grauer Anzug, Brille, Glatze, raumgreifendes Schreiten, herrisches Umherblicken. Einmal aßen ein Freund und ich ein Eis, der Direktor kam uns entgegen und herrschte uns an: Was, ihr esst ein Eis schon vor dem Mittagessen!? Als hätten wir eine Todsünde begangen. Einmal war die Turnhalle irrtümlich abgeschlossen worden, wir stiegen zu siebt durch ein Fenster hinaus, war ja nur kniehoch. Der Hausmeister verpfiff uns. Sicher war er auch 20 Jahre früher ein dreckiger Denunziant gewesen.

Dann standen wir also im Direktorenzimmer, und von weit hinten dröhnte die Stimme des Allmächtigen zu uns. Wir hatten eigenmächtig die Turnhalle verlassen. Strafe. Nicht nur Verweis, Arrest. Wir mussten je eine Stunde nachsitzen. Aber die Angst, die wir als kleine Sünderlein in diesem Raum ausstanden! Eine Scheißangst. Als wären wir zum Tod verurteilt. Viele Schriftsteller haben über ihre Zeit in Schulen und Internaten berichtet und über die zuweilen sadistischen, machtgierigen Lehrer.

Vielleicht war der Mann bei den Nazis Richter und verurteilte tatsächlich Kommunisten zum Tode. Die Angst, die wir empfanden, war vielleicht auch die Angst von anderen. Oder er war Kapo mit blank geputzten schwarzen Stiefeln in einem Lager. Da ging es anders zu. Er warf die Mütze eines Häftlings drei Meter weiter. Hol sie dir! Klassisches Double bind: Wenn er sie nicht holte, war es Befehlsverweigerung; wenn er sie schnappte, ein Fluchtversuch. Die Kugel traf ihn in den Rücken. Der Kapo sagte dann nur: Räumt ihn weg. Er wollte sich ja nur die Zeit vertreiben. Waren ja keine Menschen. Totmachen ist Befehl, und Befehl ist Befehl. Danach Wurst und Sauerkraut zum Abendessen, die blondbezopfte Tochter und die dralle Frau küssen, zwei Bier, gut schlafen. Ja, sie schliefen gut, die fetten, gemästeten Ober-Nazis.

Der Direktor verkehrte im Nebenhaus, war ein Bekannter der Hausbesitzerin. Manchmal stand er da herum, und ich sah ihn aus der Ferne. Zwei, drei Jahre später kam ein neuer Direktor. Der alte, der gefürchtete, war gestorben. Ich weiß es noch: Er war der einzige Mensch, bei dem ich mich freute, dass er tot war. Er ist weg, dachte ich mir. Ich bin sicher, meine ich heute, dieser gewaltige Mann war ein Alt-Nazi.

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