Sebalds Wanderungen

Im Oktober 2015 hatte ich W. G. Sebalds Buch Austerlitz als meinen drittliebsten Roman bezeichnet, und vor Weihnachten habe ich ihn noch einmal gelesen. Das Gute ist, dass es keine eigentliche Handlung gibt; die Heldin des Romans ist die Sprache, mit der im Gepäck Sebald wandert und damit auch in der Sprache wandert und uns zeigt, wie schön sie sein kann. Ich war wieder berauscht von seinen Sätzen. 

Dazu muss ich sagen, dass das 2000 bei Hanser in München erschienene Buch auch visuell und typografisch ein Meisterwerk ist. Da gibt es viel Platz zwischen den Zeilen, das Papier ist stark, und man hatte eine edle Schrift gewählt. Man muss sich nur einmal die hunderte von Schriften ansehen, die einem schon vom Microsoft-Programm geboten werden; die Schrift nimmt Einfluss auf die Freude am Lesen. Der Autor überlässt sich keiner Kovention, fügt unermüdlich seine Parataxen (Satzglieder) aneinander, bringt langatmige Aufzählungen von Dingen, wobei man merkt, dass er den Klang der Namen liebt, und er beschreibt Naturphänomene (und überhaupt alles) mit einer Präzision und einem Einfallsreichtum, ohne dass man spürt, dass er über den Konstruktionen vermutlich lange gebrütet hat. Nunmehr ist W. G. Sebald fast 20 Jahre tot und hat egentlich keinen Nachfolger gefunden, also freuen wir uns an seinem einzigen Roman.

Einige Auszüge:

010Am Beispiel derartiger Festungsanlagen, so führte Austerlitz, indem er vom Tisch aufstand und den Rucksack über die Schulter hängte, seine damals auf dem Handschuhmarkt in Antwerpen gemachten Bemerkungen zu Ende, könne man gut sehen, wie wir, im Gegensatz etwa zu den Vögeln, die Jahrtausende hindurch immer dasselbe Nest bauten, dazu neigten, unsere Unternehmungen voranzutreiben weit über jede Vernunftgrenze hinaus. Man müsste einmal, sagte er noch, einen Katalog unserer Bauwerke erstellen, in dem sie ihrer Größe nach verzeichnet wären, dann würde man sogleich begreifen, dass die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur rangierenden Bauten es sind — die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schleusenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten —, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen, wohingegen von einem Riesengebäude wie beispielsweise dem Brüsseler Justizpalast auf dem ehemaligen Galgenberg niemand, der bei rechten Sinnen sei, behaupten könne, dass er ihm gefalle.

Der Roman beginnt ja auf dem Antwerpener Hauptbahnhof und spricht viel über das, was wir sehen, unterfüttert mit kulturkritischen Äußerungen wie jene:

DSCN4106Es ist mir bis heute gegenwärtig, mit welcher Leichtigkeit seine von ihm sogenannten Denkversuche mir eingingen, wenn er über den ihn seit seiner Studienzeit beschäftigenden Baustil der kapitalistischen Ära sich ausbreitete, insbesondere über den Ordnungszwang und den Zug ins Monumentale, der sich manifestierte in Gerichtshöfen und Strafanstalten, in Bahnhofs- und Börsengebäuden, in Opern- und Irrenhäusern und den in rechtwinkligen Rastern angelegten Siedlungen für die Arbeiterschaft.

Ich habe natürlich auch Foucault gelesen, Wahnsinn und Gesellschaft, in dem er sich über Jeremy Bentham (1748-1832) verbreitet, der 1787 sein Panopticum veröffentlichte über die Architektur der Überwachung. Sebalds Einfall »Opern- und Irrenhäuser« hat Charme, und über seinen Stil muss man sagen, dass Magie hat. Nabokov hat einmal gemeint, ein Autor müsse Magie haben, sonst tauge er nichts. Magie kann man nicht erklären, aber sie wirkt. Ich werde süchtig, sobald ich Sebald lese und kann das Buch kaum weglegen.

Austerlitz begann, die Stadt London in der Nacht zu durchstreifen, und wir lesen … und denken an Charles Dickens, der unter Schlaflosigkeit litt und ein nächtlicher Waanderer war, der gerne am Bethlehem (Bedlam) Hospital vorbeischaute wie Sebald auch, der damit gewiss an Dickens erinnern wollte:

2021-04-28-0004newskipetersburgMan kann ja tatsächlich zu Fuß in einer einzigen Nacht fast von einem Ende dieser riesigen Stadt an das andere gelangen, sagte Austerlitz, und wenn man einmal gewöhnt ist an das einsame Gehen und auf diesen Wegen nur einzelnen Nachtgespenstern begegnet, dann wundert man sich bald darüber, dass überall in den zahllosen Häusern, in Greenwich geradeso wie in Bayswater und Kensington, die Londoner jeden Alters, anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrhheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. 

 

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