Buchstabensuppe

Als wir Kinder waren, gab es manchmal Buchstabensuppe. Das war eine Bouillon mit Teigwaren in Form von Buchstaben. Dann gab es — und gibt es immer noch — das »Russisch Brot«, größere, fest gebackene Buchstaben, die so schön nach Weihnachtsleckerei schmecken. Immer wieder haben wir Wörter aus ihnen gebildet, natürlich am liebsten den eigenen Namen.

Nun habe ich in einem französischen Supermarkt gleich hinter der Grenze eine Packung erstanden, die »Alphabet« heißt. Das sind winzigste Buchstaben, sicher tausende, die man als Pasta zubereiten kann. Es dauert 6 Minuten, bis sie al dente sind. Ich habe mir noch kein Gericht daraus zubereitet, aus einer heimlichen Scheu heraus, denn mit einem Löffel sich hundert Buchstaben in den Mund zu schieben, kommt mir fast blasphemisch vor. Ich werde es einmal tun, wenn ich mit einem Text nicht weiterkomme. Vielleicht ist das eine Therapie gegen die gefürchte Schreibblockade.

 

Trotzdem gibt es eine Verbindung zwischen den Buchstaben und dem Essen. Man sagt ja, man habe einen Roman »gefressen«, ihn sich »reingezogen«. Man hat ihn sich einverleibt, auf geistige Art, und Buchstaben sich ganz real in den Mund zu schieben, ist nur die simple körperliche Entsprechung zum Lesen. Freud hat sich ja einmal über das Gegenteil verbreitet und erklärt, Ausscheidungen seien eine körperliche Entsprechung zum Geld. Der Geldscheißer taucht ja gern im Märchen auf. 

In der Magie gibt es Rituale, bei denen man ein Blatt beschriebenes Papier verschlingen muss, um seinen Inhalt ganz real in sich zu haben; Magie arbeitet immer mit der Entsprechung wie oben, so unten. Im Thriller muss manchmal ein Agent seinen auf Papier geschriebenen Auftrag aufessen, um keine Spur zu hinterlassen. Schöne alte Zeit!

In dem Buch Ghosts and the Japanese von Michiko Iwasaka und Barre Toelken (1994) lautet eine Geschichte so: »Der alte Mann sagte mir, er habe sein Leben retten können, indem er das Schriftzeichen für ‚Reis’ in seine Handfläche schrieb und sie wegleckte. Er riet mir, dasselbe zu tun, wenn ich je von Hidarugami besessen sei.« (Hidarugami war ein Japaner, der auf einem Berg an Hunger starb und dem ein Monument errichtet wurde.) 

Nun musste ein Schluss her. Der fiel schwer. Also gab ich »Buchstaben essen« in die Suchmaschine ein. So erfuhr ich immerhin, dass es eine Buchstabenfirma für Lichtsysteme in Essen gibt. Guten Appetit!

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