Wer riskiert, verliert

In unserer Wohnanlage bekam der Großvater von zwei Kindern vom Verwalter den guten Rat, er solle sich einen Spielplatz und Spielgeräte im Garten aus dem Kopf schlagen: wegen der Haftungsfragen. Ein Kind verunglückt; Kosten und Probleme. Was könnte alles passieren? Eine saturierte Gesellschaft stranguliert sich selbst.

Die Haftungsfragen blockieren viele Initiativen. Man rechnet mit allen möglichen Eventualitäten und malt sie sich aus, bis das Schlimmste, weil man nervös und unsicher geworden ist, tatsächlich eintritt. Aber dann möchte man doch leben und Spaß haben, doch: zu viele Möglichkeiten. Wie erziele ich das Optimum? Angst, Stress, Burnout. Nichts geht mehr. Rien ne va plus.

Schon nach dem Zweiten Weltkrieg haben Auguren die westliche Gesellschaft durchleuchtet. Professor Arthur Jores schrieb:

So hat eine Jagd nach Geld und Besitz und damit vermeintlichem Glück und vermeintlicher Sicherheit eingesetzt, die von den Einsichtigen  nur als Krankheit erlebt und gedeutet werden kann.

Das war 1955, am Beginn des Nachkriegs-Booms. Theodor W. Adorno hatte einige Jahre zuvor  − 1946/47 und in den USA lebend – diesen Gedanken von kranker Gesundheit gehabt:

Die libidinösen Leistungen, die vom Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele benimt, sind derart, dass sie nur vermöge der tiefsten Verstümmelung vollbracht werden können …  

Man gewöhnt sich daran. Man erreicht etwas, und dann geht es um die Besitzstandswahrung. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Leibblatt der besitzenden Stände, rät, wie man sein Risiko streut, sein Geld am besten anlegt, wann man sein Haus verkaufen sollte. Die Bild-Zeitung mobilisiert die Rentner und schürt den Sozialneid. Es geht überall ums Geld: die absolute Vorherrschaft der Ökonomie, die Adorno schon 1946 gesehen hat. Ruhe bewahren, das Geld arbeitet für dich.

Die »Unnervosität und Ruhe«, Voraussetzung für eine höhere Stellung, sind bei Adorno »das Bild des erstickten Schweigens«, und manche scheinbar Lebendigen könne man, wenig fehlt, »für präparierte Leichen halten, denen man die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben aus bevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt«. Kein Wunder, dass ein Paar aus einer süditalienischen Stadt, das hier bei mir auf dem Dorf nun eine Wohnung besitzt, sich unversehens zu Lebzeiten ins Totenreich versetzt wähnt. Aufm Dorf nix los, ohne Moos nicht und mit auch nicht; erst recht nicht.

Man sorgt sich um seine Gesundheit, das ist die neue Religion.Wenn man in der Krise steckt, bekommt man den Rat: Geh zum Psychologen. Menschen in Krisen sprechen sich dort aus, statt sich Freunden zu offenbaren, weil die Distanz untereinander größer geworden ist. Jeder für sich. Und wo’s früher um Geld ging und man dafür auch was riskierte, geht’s heute darum, alles richtig und möglichst nichts falsch zu machen. Keine Experimente! (So hieß der Slogan von Adenauers CDU in meinem Geburtsjahr 1957.)

Lieber vernünftig sein, keine Party, früh zu Bett, keinen Spielplatz bauen, alles erörtern und bedenken, Gefahren und Risiken abwägen; alles verschieben auf die Zukunft, das Zauberwort der Gesellschaft, doch man weiß gar nicht, was man will, halt bequem weitermachen wie zuvor. Doch das reicht nicht, Leute!

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