Schneeland

Am gestrigen späten Nachmittag machte ich einen Spaziergang durchs Rebland. Ich muss nur über den Bach und einen Anstieg hoch, und schon habe ich das Dorf hinter und unter mir, und vor mir senkt sich der Weg und steigt wieder an. Ich kann nach links abbiegen, und immer wieder öffnen sich freie (nun weiße) Felder und zeigen mir den beleuchteten Kirchturm fern und, rechts daneben, den mit Wald bekränzten Kegel des Castellbergs.

 

Blick auf Speicher im Appenzellerland

Zu Hause blätterte ich dann durch den Roman Schneeland von Yasunari Kawabata (1899−1972), dem japanischen Schriftsteller. Ich hatte mir vor zehn Jahren eine italienische Taschenbuchausgabe gekauft vom Verlag Einaudi, bei dem es nur noch Schönheit und Trauer gibt, das ich schon einmal vorstellte. Unwahrscheinlich, dass neue Kawabata-Werke hinzugekommen sind, denn dünne Romane wie dieser mit wenig Handlung sind das genaue Gegenteil dessen, was heute gefragt ist. Man denke sich, ein junger zeitgenössischer Leser nimmt sich Die schlafenden Schönen vor! 

Und man denke sich den sensiblen Autor Kawabata, der hören muss (wie ich heute), dass ein neuer Werbespot für Turkish Airlines mit Lionel Messi (Fußballspieler) und Kobe Bryant (Basketballspieler) auf Youtube weltweit 28 Millionen Mal angeschaut wurde. (Das hörte ich um 19.45 Uhr auf CNN. Jetzt sind es vielleicht schon 29 Millionen.) Auf der Rückseite von Schneeland (Il paese delle nevi) ist das Buch stilvoll umrissen worden. Italiener machen das immer gut, finde ich: 

»Meisterwerk aus unausdrückbaren und quälenden Gemütszuständen. Schneeland kann als ein kleines Gedicht in Prosa angesehen werden, in dem sich Liebe und Tod in einer Atmosphäre angedeuteter Melancholie und heraufdrängender Tragik verschränken.« Ich übersetze die ersten Zeilen (aus dem Italienischen, das vielleicht aus der englischen Version übersetzt wurde): »Der Zug glitt aus der langen Galerie in das Schneeland hinein. Das Land breitete sich weiß unter dem nächtlichen Himmel aus. Der Zug blieb vor einem Signal stehen.«

Oberhalb von St. Gallen

Ein junges Mädchen ruft etwas zum Streckenposten hinaus. So sieht Shimamura zum ersten Mal Yoko. Der Mann aus Tokio fährt in ein Thermen-Hotel, erinnert sich an eine frühere Affäre und knüpft wieder die Beziehung zur Geisha Komako an, einer etwas chaotischen, trunksüchtigen Frau. Es gibt endlose, ziellose Gespräche zwischen ihm und ihr. Shimamura ist ein Mann, der viel Zeit hat und pausenlos über sich nachdenkt: ein Ästhet. In Tokio ist er verheiratet.  

Es kommt zwischendurch zu einem Gespräch mit Yoko, die unglücklich ist und nach Tokio will. Ob er sie mitnimmt? Shimamura ist unentschlossen und bleibt vage. Er redet lieber mit Komako, die trinkt und von selber zu ihm kommt; so muss er nichts entscheiden. Die Milchstraße ist eines Nachts besonders schön; sie »wölbte sich über ihnen in die Richtung, in der sie gingen und schien Komakos Haare mit ihrem Licht zu baden.« Am Morgen war Schnee gefallen, und man hörte das Gebrüll (ruggito) des Meeres und der Berge.  

Die Milchstraße. Sie bedeutet etwas, und auch das Gebrüll ist bedeutungsvoll, man ahnt es; die Ahnung einer tieferen Bedeutung ist bei guter Literatur immer da. Am Ende, auf den letzten Zeilen, hält Shimamura Yoko in seinen Armen. »Er stolperte und versuchte, sein Gleichgewicht wiederzufinden mit zurückgelegtem Kopf, und die Milchstraße stürzte in ihn hinein mit ihrem Gebrüll.«            

 

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