Irina Tweedie (1907-1999), die Russin, zog nach dem Tod ihres Gurus (wir reden noch davon) in den Himalaya, in einen Ashram auf 1850 Metern Höhe. Sie war das Schweigen und die Stille gewohnt, und die Natur bezauberte sie. Meist erhob sie sich noch vor Sonnenaufgang und setzte sich auf die Türschwelle. Und dann beschreibt sie uns in ihrem Buch Wie Phönix aus der Asche im Zeitraffer, was in den folgenden Stunden geschah …

Die blassgrüne durchsichtige Farbe des Himmels verwandelt sich allmählich in ein fahles Gelb, den Vorboten der Morgendämmerung. Es ist vollkommen still. Die Schneefelder sind düster und abweisend. Nirgends ein Laut. Die Natur wartet. Dann kommen langsam Geräusche vom Dorf zu mir herauf. Geräusche des erwachenden Lebens: Kinderstimmen, Gelächter, Hundegebell, Gesangsfetzen. Der Klang, wie Wasser in einen Eimer läuft. Rauch erhebt sich, der herrliche, beißende Geruch von Holzfeuer. Aber der Wald und der Dschungel sind noch still. Dann, ganz plötzlich, als gehorchten sie dem Zeichen eines unsichtbaren Dirigenten, fangen die Vögel auf den Anhöhen und in den Tälern zu singen an. Erst zögernd ein vereinzeltes Zwitschern, eine leise Melodie. Dann stimmen alle anderen ein. (…)

Ich sitze da und höre zu, und der Himmel ist orange mit Lichtstrahlen hinter den Gipfeln. Jeden Tag liegen diese Strahlen weiter südlich. Jetzt kommt der dramatischste Augenblick: Die Spitzen der Gletscher erhalten das erste Glühen. Es ist, als würde eine Deva eine rote Lampe auf dem Gipdfel des höchsten Berges anzünden, und bald fangen einer nach dem andern alle übrigen Gipfel an zu leuchten. Das tiefrote Licht gleitet immer weiter herab, und die Spitzen der Berge färben sich korallenrot, dann tiefgold, dann brillantgelb und dann bleicher und bleicher, bis die Gletscher weiß dastehen, glitzernd, unwirklich in ihrer Reinheit …

… erst nur vor einem blassen, gelblichen Himmel, doch dann ragen sie in ein intensives Blau empor. Sie scheinen so leicht, so ätherisch, dass man seinen Augen nicht traut.

Giovannas legendäres Everest-Foto

Dieser Eintrag wurde am Donnerstag, den 4. Juni 2020 um 00:11 Uhr erstellt und ist in der Kategorie Reisen zu finden. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS 2.0 Feed verfolgen. Kommentare und Pings sind derzeit nicht erlaubt.