Meine Mutti

Heute wird meine Mutti, die Friedl, 91 Jahre alt. Im Juli ging’s ihr mal schlecht, da dachten wir schon, es geht zu Ende. Nun aber freut sie sich wieder, sitzt in ihrem Sessel, grinst oder hat die Augen geschlossen, deutet mal irgendwohin im Raum und sagt etwas dazu, das aber dunkel bleibt. Sie ißt und trinkt und schläft gut, und eine Weile kann das schon so weitergehen, hoffen wir.

Natürlich denkt man immer über die Demenz nach. Als ich am 16. August über die Jungfrau der Welt schrieb, erwähnte ich wieder einmal Peter Novak und seine Division of Consciousness … und da fiel mir eine Parallele auf. Novak warnt ja vor einem Auseinanderbrechen des Bewusstseins im Tod: Der Geist schwebt frei umher, die Seele liegt reglos und in sich selbst versunken in einem Limbo. Die Seele trägt die Erinnerungen und Emotionen, der Geist weiß davon nichts und ist erdgebunden, spukt und macht Blödsinn.

Demenz ist ja eine Art vorgezogener Tod. Der Geist trennt sich vom Körper. Und wie die erdgebundenen Geister wandern die Dementen des Nachts umher, kramen und nesteln und räumen, sind ruhelos und unbeheimatet. Alle wollen sie heim; alle suchen ihre Seele, die abgetaucht ist und die Erinnerungen mitgenommen hat. Die Emotionen gibt es noch, und bei meiner Mutter in elementarer Form: Sie will fast explodieren, wenn sie sich ärgert, und sie kann furchtbar traurig sein. So war sie früher nie; das Unterdrückte kam heraus.

Das Gehirn ist für mich der Überträger des Bewusstseins, das auf einer anderen Ebene angesiedelt ist (weil andere Dimension zu mächtig klingen würde). Das Gehirn hat keinen Zugriff mehr auf die rationalen Strukturen des Geistes. Warum das geschieht, wissen wir nicht. Manchmal ist es eine Sache des Alters; manche Alte, kann man vermuten, steigen irgendwie aus aus der Welt, wollen nicht mehr; wieder andere müssen in aller Stille Probleme ihrer Vergangenheit abarbeiten, was im Untergrund ohne ihr bewusstes Zutun geschieht. Ich bin sicher, dass nach dem Tod der Geist wieder zur alten Klarheit kommt.

Man ist so hilflos im Umgang mit Dementen. Man heuchelt Verständnis und Verstehen, aber man versteht nichts, weil man den Code nicht kennt (sofern es einen gibt). Wenn man mit Männern spricht, die früher in der Geschäftswelt tätig waren und nun dement sind, dann erlebt man eine Parodie des Leer-Sprechs der Businessleute (und Politiker); dann wird es so absurd, dass Beckett und Dürrenmatt daran ihre Freude hätten.

Bei Demenz muss es eine Struktur geben; manchmal begreift mich meine Mutter, manchmal sagt sie einen total richtigen Satz. Und sie ist so warm und liebevoll und anhänglich, wie sie es früher nie war, und nun erst ist unsere Beziehung schön und wahr geworden. Als sie 85 wurde, im Jahr 2014, fuhren wir mit ihr auf dem Ammersee herum, und da sah sie aus wie ein Filmstar.

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