Kalte Zeit

Neue Assistentin beim Arzt. Sie schaut einen kalt an und schnarrt wie früher die preußischen Offiziere: »Das Rezept können Sie morgen vormittag abholen.« Schönen Tag auch; Ende. Einen Neurolgen traf ich, der nahm wie ein Automat meinen Fall auf: keine Spur von persönlichem Interesse. Da wäre ein echter Automat besser, meinte eine Nachbarin: einen Mann für mich, ein Mädchen für dich, macht mehr Spaß. Kalte Zeiten.

Man fragt sich dann, wie diese kompetenten kalten Kräfte ihren Job bekommen. Da wird der Gedanke dahinterstecken: Die lösen Probleme am besten. Denn für diese technikbesessene und faktenverliebte Gesellschaft wird der Alltag zu einer Konstellation von Problemen, die zu lösen sind. Eine logische, intellektuelle Leistung. Der Philosoph Wittgenstein fragte sich einmal: Was ist, wenn das Problem gelöst ist? Dann kommt das nächste Problem. Ein Lächeln saugt man begierig auf. Eine junge Lettin sagte, die Deutschen seien etwas distanzuiert, mit denen sei es schwierig. Nun, das wissen wir.

Worum geht es bei diesen Probblemen? Letztlich geht es um Menschen, die etwas brauchen und wollen. Sie wünschen sich auch Zuwendung, oder nicht. Doch die Freundlichkeit hat sich davongemacht. Die Sprache ist auch aseptisch und neutral geworden. Angst vor Gefühlen herrscht, Angst vor Ängsten, Angst vor der Freiheit: In diesem Buch erwähnt Carlo Levi das Gefühl der Masse und die formlose Menschheit und fährt fort:

Das Gegenteil davon ist der abstrakte Individualismus, der jedes Gefühl von Gemeinschaft verloren hat und in dem der Staat nicht nur nicht vergöttlicht wird, sondern nicht einmal existiert, weil keine Leidenschaften existieren. Dieser Atheismus ist ebenso tödlich wie jene Götzenverehrung. Man soll nicht frei von Leidenschaften sein, sondern frei inmitten der Leidenschaften. Denn die Leidenschaft ist der Ort, an dem das Individuum mit dem ungeschiedenen Allgemeinen in Kontakt tritt … Der abstrakte Indiidualismus, das Sich-Verflüchtigen der Leidenschaft, die Schlaflosigkeit — das ist die Dürre.

Nein, Leidenschaften gibt es in dieser mitteleuropäischen Techno-Zauberwelt nicht. Nur die Werbung redet heuchlerisch davon. Es wird konsumiert, Bedürfnisse werden gestillt und Probleme an die jeweiligen Experten verwiesen. Das gelingende Leben wird zu einer Rechenaufgabe, die vielfältigen Möglichkeiten wollen ausgeschöpft werden bei möglichst geringen Kosten. Es wird kalkuliert. Allmählich ist entstanden, was Theodor W. Adorno befürchtete: eine Objektwelt, in der die Menschen verdinglicht werden, damit man schön die Probleme lösen kann. Irgendein technisches gadget hilft obendrein. Alle menschlichen Empfindungen (ihren Ausdruck) hält man von sich möglichst fern. Eiszeit bei gleichzeitiger Erderwärmung.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.