Angst vor der Freiheit
Vor einem Jahr habe ich bereits über die Tour Paradies-Erde und zurück geschrieben und dabei auch Carlo Levi aus Paura della libertà (1946) zitiert. Nun soll das ein wenig klarer werden, und auch mich beherrscht die Angst vor dem Formlosen: die Angst, mich im Urwald der Gedanken zu verirren. Darum muss Ordnung her: in Form eines manipogo-Artikels.
William Buhlman, der Astralreisende, betont immer, dass Form nur zur Oberfläche unserer sichtbaren Welt gehört. Die Wahrheit sei aber, dass alles ringsherum (im ganz Kleinen und im immens Großen) formlos ist, chaotisch, zusammenkommend und auseinandergehend, pulsierend. Aus dem Chaos kommen wir, aus einem von Energie überquellenden vermeintlichen Nichts. Carlo Levi schreibt:
Es existiert ein anfänglich Ungeschiedenes, das allen Menschen gemeinsam ist, ewig veränderlich, Wesen jeden Aspekts der Welt, Geist jeden Seins in der Welt, Erinnerung an jegliche Zeit der Welt. Von diesem Ungeschiedenen gehen die Individuen aus, angetrieben von einem dunklen Freiheitsdrang, sich abzuheben und Form anzunehmen, um sich zu individualisieren — und immer wieder zurückgetragen durch eine dunkle Notwendigkeit, sich an ihn wieder anzuheften und dort seinen Grund zu finden. … Der Sinn und der Schrecken der Transzendenz des Ungeschiedenen, das Erschrecken über das Undeterminierte in jedem, der sich mühevoll selbst erschafft und sich abspaltet, das ist das Heilige.
Die gemeinsame Erfahrung, aus einem Urgrund zu kommen, verbindet uns (auch wenn wir uns nicht erinnern). Wir sind alle Familie. Wir sind ausgeschwärmt, um Einzelwesen zu werden. Und haben Angst, wieder aufgeschluckt zu werden vom schwarzen Loch. (Und doch steckt eine geheime Faszination darin: Die Mystiker beweisen es, und sie sind meist glücklich.) Religion, so Levi, verweist den Menschen in ein Geflecht von Regeln und Symbolen und setzt an die Stelle der stummen Transzendenz Idole, zu denen wir beten können (Gott, Jesus Christus, die Heiligen und Götter und Dämonen in anderen Religionen). An ihnen können wir uns festhalten.
Levi hat noch einen tiefen Gedanken. Wir machen uns selbst zu Idolen: Wir geben uns einen Namen und eine Geschichte, damit wir einen gewissen Abstand haben zum anderen, denn auch da droht das Sich-Verlieren. Levi:
Jede menschliche Beziehung ist, noch bevor sie frei gewählt ist, heilig und religiös — weil sie nur möglich ist, wenn ich der andere bin, wenn ich mich mit ihm identifiziere. (…) Eine wahrhaft menschliche Beziehung ist daher mit ihrer Schüchternheit und ihrer Scheu stets eine Rückkehr zu den Ursprüngen. Die Angst vor der Frau ist ein heiliger Schrecken, weil im Liebesakt sich jede persönliche Erinnerung verliert und sich das Wiedereintauchen in die universell ungeschiedene Erinnerung der Wasser des Chaos vollzieht.
Und dennoch gehen wir nach dem Tod in die andere Welt mit unserem Charakter und unseren Erinnerungen. Die Angst, sich zu verlieren, wird sich als unbegründet erweisen. Doch das irdische Leben wird unwichtig werden. Es war nur ums Lernen gegangen. Die Seelen schließen sich zu Gruppen zusammen, und auf den höchsten Ebenen mag die Individualität (auf Lateinisch: das Ungeteilte) keine Rolle mehr spielen, man will dann vielleicht eingehen ins Reich und verschmelzen.