Unsagbares

Im Oktober überfiel mich plötzlich die Lust, wieder einmal über Quantenmechanik zu lesen. Ich studierte also das Interview der US-Zeitschrift Omni aus dem Jahr 1988 mit dem irischen Physiker John Stewart Bell (1932-1990), in dem mir eine Aussage aufgefallen war über das Unsagbare. Die Materie ist schwierig und greift in die Philosophie über; und ich bin ja nur ein interessierter und faszinierter Laie, aber vielleicht gelingt es mir, etwas ‚rüberzubringen. 

John Stewart Bell, der beim Elektronenbeschleuniger CERN in Genf arbeitete, war ein rothaariger, bärtiger Ire, gut gelaunt und auf dem Boden der Tatsachen stehend, die im Fall der Quantenmechanik abenteuerlich genug sind. 1925 lag sie in ihren Grundzügen vor, mittlerweile ist sie das am besten bestätigte Theoriegebäude der Physik, und die gute alte klassische Physik ist nunmehr nur mehr eins ihrer Teilgebiete. Die Erkenntnisse der Quantenphysik seien nicht nur für die Physiker interessant, man müsse the big world miteinbeziehen, forderte Bell. Was bedeuten die Erkenntnisse für unsere Welt?

Nun: das Unsagbare. Es geht um die kleinsten Teilchen, die zu klein für unsere Messinstrumente sind. Elektronen können überall und nirgends sein; erst die Messung hält sie fest. Vorher waren sie unsichtbar. Wenn man zu »diesen Dingen hinunterkomme«, so Bell, hätte es keinen Sinn mehr zu sagen, etwas sei »da draußen« oder »wirklich da«. Reden könnte man über experimentelle Ausrüstung …

Aber die Elektronen und so weiter — über sie darfst du nicht sprechen. Du kannst nicht über sie reden. (Im Original: But the electrons and so on — these you are not allowed to speak about. You can’t talk of them.)

Die Mini-Teilchen, die um den Atomkern jagen, sind keine Dinge, wie wir sie kennen; sie haben geringste Masse und keine Ausdehnung. Atome sind innen ziemlich leer, weshalb der Physiker Hans-Peter Dürr sagen konnte: »Die Materie gibt es nicht.« Und was sagen wir vom masselosen Photon, einem einzelnen Lichtteilchen? Nichts. Niels Bohr ging in seiner Kopenhagener Interpretation so weit zu sagen, Elektronen gäbe es nicht, sie seien virtuell; erst wenn der Mensch hinschaue, seien sie plötzlich da.

Das Buch, das John Stewart Bell ein Jahr vor dem Interview veröffentlichte, hieß: Speakable and Unspeakable in Quantum Mechanics. Etwa: Das Sagbare und das Unsagbare in der Quantenmechanik. Darin steht:

Das Problem ist folgendes: Wie genau wäre die Welt aufzuschlüsseln in sagbaren Apparat … über den wir reden können … und das unsagbare Quantensystem, über das wir nicht reden können? Wieviele Elektronen oder Atome oder Moleküle machen einen Apparat aus? 

Wir haben einen Messapparat und ein Quantensystem, und der Apparat ist aus denselben Mini-Teilchen gebildet, kann also klassisch beschrieben werden. Wo ist der Übergang zwischen der geheimnisvollen Quantenwelt, in der die Begriffe real und völlig wahr Fiktionen sind, und der klassisch beschreibbaren Welt?

John Stewart Bell lieferte einen entscheidenden Beitrag zur Quantenphysik, der heute noch Rätsel aufgibt. Einstein, Podolsky und Rosen hatten 1935 in einem Gedankenexperiment herausgefunden, dass zwei »verschränkte« (sozusagen verheiratete) Teilchen, in entfernte Weltgegenden geschossen, aufeinander reagieren: Wenn man etwa die Polarisation des einen misst, hat das andere sofort den komplementären Wert, als wüsste es, welchen sein Geschwisterteilchen hatte — auch viele Lichtjahre entfernt. Das ist so. Woher wusste das zweite Teilchen, was wir messen wollten?

Bell mühte sich ab, verborgene Variablen zu prüfen, die dafür verantwortlich sein könnten, aber: keine eignete sich. Es ging nicht. Im Interview sagte der irische Physiker:

Die Theorie sagt dir, dass da vielleicht etwas abläuft, das schneller als das Licht sein muss, obwohl es mich schmerzt, das sagen zu müssen. … Aber dann: Zu sagen, dass etwas schneller als das Licht unterwegs ist, das bedeutet, mehr zu sagen als ich weiß.

Ja, das Sagbare und das Unsagbare quälten John Stewart Bell immer. Bei einer Ausfahrt mit dem Rad Anfang November dachte ich an Sir James Jeans und seinen Spruch, das Universum komme ihm immer weniger als eine Maschine vor, sondern immer mehr als ein großer Gedanke. Und ich dachte mir: Vielleicht sind »Elektronen und so weiter« am ehesten mit Gedanken zu vergleichen: immateriell und schneller als schnell unterwegs. Gedankensysteme greifen wie Quantensysteme auf die Welt über und verändern sie, es gibt Telepathie, und belegt sind auch telekinetische Phänomene: Bewegung von Gegenständen durch Gedankenkraft. Die Quantenwelt funktioniert wie die Welt unseres Bewusstseins. Halten wir diesen Gedanken fest.

 

 

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