Am Fluss

Wenn der Geist still geworden ist und seine Vergangenheit auf sich beruhen lässt, wenn er alle Meinungen und vorgeprägten Urteile fortwirft und in seiner Gänze das sieht, was jetzt vor ihm liegt, dann wird alles neu und er ahnt schon den Frühling, der sich zögernd ankündigt. Krishnamurti zeigt uns die Landschaft durch das Bewusstsein, das sie betrachtet und mit ihr eins wird; der Geist betrachtet sich selbst.

Aus Commentaries on Living (Third Series), Madras 1981:

Es war eine jener großen chaotischen Städte, die das Land verzehren, und um hinauszukommen, mussten wir uns scheinbar endlose Meilen auf schlechten Straßen bewegen, vorbei an Fabriken, Slums und Hütten der Eisenbahn, durch exklusive Vororte der Reichen, bis wir endlich den Anfang des offenen Landes sahen, wo der Himmel weit ist und die Bäume hoch und frei stehen. Es war ein schöner Tag, klar und nicht so warm, da es kürzlich geregnet hatte — einer jener weichen Regenfälle, deren Wasser tief ins Erdreich eindringen. Als die Straße einen Hügel hinanstieg, stießen wir plötzlich auf einen Fluss, der in der Sonne erglänzte und durch die grünen Felder dahinwanderte, unterwegs zum fernen Meer. 

Es gab nur wenige Boote auf dem Fluss, die plump gebaut waren und viereckige schwarze Segel aufwiesen. Viele Meilen weiter war eine Brücke für die Züge und den täglichen Straßenverkehr, doch hier, an diesem Platz, sahen wir nur eine Ponton-Brücke, die der Verkehr nur in einer Richtung überqueren konnte, abwechselnd, und es wartete eine Reihe Lastwagen, Lastkarren und Autos sowie zwei Kamele, bis sie an die Reihe kämen.

Wir wollten uns dieser sich stetig verlängernden Schlange nicht anschließen, denn wir würden lang zu warten haben, also wählten wir eine andere Straße zurück und ließen den Fluss hinter uns, um über Hügel und quer durch Wiesen und an manchem Dorf vorbei zu fahren, hin zum offenen Meer. Der Himmel oberhalb war intensiv blau und der Horizont voller enorm großer weißer Wolken, die die Morgensonne anstrahlte. Sie besaßen fantastische Formen und blieben reglos und fern. Du konntest ihnen nicht nahekommen, auch wenn du ihnen über viele Meilen entgegenfuhrst.

An den Rändern der Straße war das Gras jung und grün. Der heraufkommende Sommer würde es braun brennen, und das Land würde seine grüne Frische verlieren; doch nun schien alles wie neu gemacht, und Freude lag über dem Land. Die Straße war ziemlich rauh, durchsetzt mit Schlaglöchern, und obwohl der Fahrer sie zu vermeiden trachtete, warf es uns immer wieder hoch, und fast schlugen unsere Köpfe ans Innendach; doch der Motor lief ruhig, und nichts ratterte an dem Wagen.

Der Geist war sich der majestätischen Bäume bewusst, der felsigen Hügel, der Dorfbewohner, des weiten blauen Himmels, aber er befand sich auch in Meditation. Nicht ein einziger Gedanke störte. Es gab kein Zucken der Erinnerung und keine Anstrengung, etwas festzuhalten oder abzuwehren, und auch in der Zukunft gab es nichts zu holen. Das Bewusstsein nahm alles in sich auf, es war rascher als das Auge, doch es behielt nicht, was es wahrnahm; das, was geschah, ging durch es hindurch wie der Luftzug, der durch die Zweige eines Baumes fährt. Man hörte ein Gespräch hinter einem, sah den Lastkarren und den sich nähernden Lastwagen, und dennoch blieb der Geist völlig in Ruhe; und die Bewegung innerhalb der Ruhe gab den der Anstoß zu einem neuen Beginn, einer Neugeburt.  

Doch würde der Neubeginn nie alt werden; er würde kein Gestern und kein Morgen kennen. Der Geist erfuhr das Neue nicht; er war selbst das Neue. Er kannte keine Dauer und damit auch keinen Tod; er war neu, nicht bloß neu gemacht worden. Das Feuer kam nicht aus der Asche von gestern. 

 

Aus den Commentaries On Living habe ich schon 12 Mal übersetzt.
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