Drei Utopien

Im Bodenseebuch 1943 stehen drei Texte von Robert Walser (1878-1956), die zu schön sind, um dort eingeschlossen zu bleiben. Die Szenerien wirken derart irreal, dass es sich um Erfahrungen in einer anderen Welt handeln könnte. Und doch ist alles innig und intim geschildert, herzerwärmend: Das war Walsers Kunst.

Die erste Erzählung, die Einladung, ist die Utopie einer Liebesnacht, wie sie Walser sich erträumte und sie vermutlich nie erlebte. Beim Lesen denkt man unwillkürlich an Kitsch, doch das ist die falsche Fährte. Es geht um die Utopie eines intensiven engen Beisammenseins, einer Vereinigung, die Walser sich als einzigen, langen Kuss denkt; denn im Kuss, bei dem unser Lebenshauch sich mit dem des Partners vermischt, wird eine Vereinigung vollzogen, die idealerweise lange anhalten könnt, anders als im Geschlechtsakt, der auf einen Höhepunkt zusteuert, schnell endet und einen Kater zur Folge hat, wie man hört.

Nein, Robert Walser will alles, will zwei Seelen vermählen, ohne dass ein Wort fällt und ohne dass etwas oder jemand das Idyll stört. Das wäre reine Liebe. Vielleicht ist sie nur im Jenseits möglich oder in einer Traumwelt. (Heute mal umgekehrt: Meine Hinführung kursiv, den Walser-Text normal. Er ist zu edel, um kursiv gesetzt zu werden. Und: das Aquarell zu den Beiträgen ist jeweils von mir. Habt Nachsicht.)

Die Einladung

2021-01-29-0001Ich habe dir ein himmlisch schönes Plätzchen zu zeigen, Himmlische. Der Ort liegt ganz im stillen, bescheidenen, grünen Wald verborgen, wie ein Gedanke in einem Gedanken. Es ist eine weiche, milde Schlucht, die von niemand besucht wird. Sie liegt in den Bäumen so warm begraben, o so süß versteckt, dort, bilde ich mir ein, möchte ich dich küssen, mit innigen, sanften, süßen und langen Küssen, mit Küssen, die alles Reden, selbst das schönste und beste, verbieten. Der Ort, so zart und so abgelegen, wie er ist, steht in keinem Reisebuch als Sehenswürdigkeit verzeichnet. Ein kleiner, durch dichtes Gebüsch sich windender Fußpfad führt zu der Schlucht, zu dem Wunderort, wo ich dir zeigen möchte, Wunderbare, wie ich dich liebe, wo ich dir zeigen möchte, Engel, wie ich dich vergöttere. Dort umschlingt und umhalst man sich wie von selber, und wie von selber berühren sich die Lippen. Du weißt noch nicht, wie ich küssen kann. So komm an den Ort, wo nichts ist als das liebliche Rauschen der hohen Bäume, dort wirst du es erfahren. Ich werde kein Wort reden, wir werden beide schweigen, nur die Blätter werden leise flüstern, und der süße Sonnenschein wird durch das zierliche Geäste brechen. O wie still, wie still wird es sein, wenn wir uns küssen, wie schön wird es sein, wenn unsere Lippen liebesdurstig und –hungrig aneinanderhängen, wie süß wird es sein, wenn wir in der stillen, lieben Schlucht uns lieben. Wir wollen uns liebkosen und küssen in einem fort, bis der Abend kommt und mit ihm die silbern blitzenden Sterne und der Mond, der göttliche. Zu sagen werden wir uns nichts haben, denn es soll alles nur ein Kuss sein, ein unaufhörlicher, ununterbrochener, stunden-stundenlanger entzückender Kuss sein. Wer lieben will, will nicht mehr sprechen, denn wer sprechen will, will nicht mehr lieben. O komm an den heilig entrückten Ort der Tat, an den Ort der Ausübung, wo alles sich verliert in Erfüllung, und wo alles ertrinkt und erstirbt in Liebe. Die Vögel werden uns mit ihrem fröhlichen Gesang umzwitschern, und in der Nacht wird eine himmlische Stille um uns sein. Was man Welt nennt, wird hinter uns liegen, und gefangen gehalten von dem Entzücken, werden wir beide Kinder der Erde sein und fühlen, was Leben heißt, empfinden, was Dasein heißt. Wer nicht liebt, hat kein Dasein, ist nicht da, ist gestorben. Wer Lust zu lieben hat, steht von den Toten auf, und nur wer liebt, ist lebendig.

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