Krankheit als Selbstheilung

Rachel Remen, ihr Buch war ein Treffer. Aber auch ein anderes aus Lucis Antiquariatsbeständen gab mir viel. In zwei Stunden habe ich es gelesen, fiebrig und hungrig. Es heißt wie der Titel, Krankheit als Selbstheilung, und wurde von dem Psychiater Dieter Beck (1935-1980) geschrieben; es war — leider, leider — sein letztes Buch, sein Vermächtnis gewissermaßen.

Der Titel ist schon eine Hypothese. Wir könnten viel darüber nachdenken und würden danach vielleicht sogar selbst ein Buch darüber schreiben können, auch wenn wir nicht die wunderbaren Beispiele aus der Praxis hätten wie Beck, der Leiter der Psychosomatischen Station an der Psychiatrischen Poliklinik Basel war. Gleich zu Beginn legt er uns seine These vor:

Die These heißt: Körperliche Krankheiten stellen oft einen Versuch dar, eine seelische Verletzung auszugleichen, einen inneren Verlust zu reparieren oder einen unbewussten Konflikt zu lösen. Körperliches Leiden ist oft ein seelischer Selbstheilungsversuch.

Wir begeben uns auf einen kleinen Streifzug durch das Buch und deuten hier den Hintergrund nur an: Dass der Körper, wie die Psychosomatik lehrt, ein eigenes Bewusstsein besitzt, das nicht richtig zu trennen ist vom lenkenden Geist oder dem Bewusstsein. Körper, Geist und Seele sind synchronisiert, und bald )nächstes Jahr) werden wir uns mal mit Seelenvorstellungen der Völker beschäftigen, um mehr Klarheit zu gewinnen.

Erstes Schlaglicht:

Wenn man Patienten, die seit ihrer Kindheit an einer Fettsucht leiden, mit einer Abmagerungskur behandelt, dann treten bei einem Teil von ihnen persönlichkeitsspezifische seelische Symptome wie Zwänge, Depressionen, Selbstmordneigung, Wahnbildungen oder Homosexualität auf, die nicht vorhanden waren, als der Patient noch dick war. Der Patient wird durch die Abmagerungskur kränker, obwohl das Zielsymptom des Übergewichts, das der Arzt bekämpft hatte, erfolgreich attackiert worden ist. Hilde Bruch, die große amerikanische Kennerin der Psychosomatik der Adipositas, schreibt im Zusammenhang mit solchen Kranken, dass in jedem Dicken ein magerer Schizophrener schlummere. … »Die Fettsucht erfüllt eine wichtige positive Funktion. Sie ist ein Kompensationsmechanismus in einem Leben, das voll von Frustrationen und Spannungen ist.«

Zweites Schlaglicht:

Wurmser, ein Kenner der amerikanischen Drogenszene, schreibt: »Bei den vielen Patienten, die ich besser kennenzulernen Gelegenheit hatte, war dies eine ganz typische Beobachtung — nämlich dass der Drogengebrauch einen Versuch zur Selbstbehandlung darstellt. Er ist darum so zwanghaft, so süchtig, weil er den Patienten davor schützt, von pathologischen Affekten überwältigt zu werden. … Wurmser betont die überwältigenden Affekte, die den Drogenpatienten überfallen und sich auf Gefühle von Wut, Scham, Einsamkeit, Angst, Langeweile, Leere, Sinnlosigkeit und Depression beziehen.

Drittes Schlaglicht:

Die Heirat einer possessiv scheinenden Frau mit dem schwach scheinenden alkoholkranken Mann oder die Verbindung einer attraktiven und kindlich-bewundernden Sekretärin mit dem mächtig-protzenden Manager sind Beispiele dafür. Dabei geht es bei diesen zwischenmenschlichen Stabilisatoren stets darum, dass die Lücke im eigenen psychischen System durch den Partner ausgefüllt wird. Der Alkoholkranke, der einen Defekt in der Selbstkontrolle und Selbstbewahrung hat, verbindet sich mit der strengen Mutter-Frau, die ihm seinen Mangel ausgleicht, während die Frau ihrerseits vom alkoholabhängigen Mann die ihr fehende Weichheit und Wärme bekommt. Die hübsche, kindlich-bewundernde Sekretärin ergänzt dem Manager durch ihre Attraktivität sein mangelndes männliches Selbstgefühl und bekommt ihrerseits durch Partizipation an dessen beruflicher Protzwelt das ihr fehlende Gefühl, als Frau gleichwertig wie Männer zu sein.

Dieter Beck reflektiert auch über seinen eigenen Berufsstand und möchte dem Arzt etwas Zurückhaltung abverlangen. Auch er (oder sie) kann, wenn er das Vertrauen des Patienten genießt, psychisch stabilisierend wirken, doch er hat, wenn er in der Deckung bleibt, das Gefühl, medizinisch versagt zu haben.

Die Gefühle, nichts getan zu haben, bekommen eine andere Bewertung, wenn der Arzt verstehen gelernt hat, dass er nichts tun muss und auch nichts tun kann. Wenn er sich von der Idee des »Um-jeden-Preis-heilen-Müssens« distanziert und therapeutische Sparsamkeit bei sich entwickelt hat, wenn er tatsächlich erkannt hat, dass nur der Patient sich selber heilen kann, und sein Beitrag dazu zwar nicht gering, aber oft anders ist, als er an der Universität gelernt hat, dann wird er sich als Arzt wohler fühlen.

 

Dieter Beck: Krankheit als Selbstheilung. Frankfurt: Insel Verlag, 1981

 

 

 

 

 

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