Am Tiber mit Musik

Anfang Mai veranstaltete ich eine »Session« mit einem früheren Rockmusiker, der eine Weile im Pflegeheim leben musste und mit dem mich vieles verbindet. Ich spielte ihm Titel von King Crimson vor und las aus meinem Roman … und dachte mir: Das ist gut, man sollte mal wieder an »Tod am Tiber« erinnern, meinen Roman, der im August vor neun Jahren erschienen ist. 

CIMG0088Der Erzähler lebt in einem alten, ungenutzten Schulhaus am Tiber. Der Feuertod eines Obdachlosen bringt ihn dazu, herausbringen zu wollen, was dahintersteckt. (Das zumindest ist autobiografisch: Ich sah die Ruine des Wohnwagens und fühlte mich verpflichtet, mit dem Schreiben zu beginnen.) Vor dem verbrannten Wohnwagen fand man einen Zettel, den sich Rudi ansieht, als er über den Tiber blickt und am Himmel den Mond sieht.

Nun der Auszug aus »Tod am Tiber«: 

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Ich greife mir eine Flasche Weißwein aus einem Karton, Verdicchio aus den Marken. Korkenzieher gibt’s ja noch, und nehme mir nun Paolos Dossier vor statt Dostojewskis »Brüder Karamasow«. Sonntag Leszek, Dienstag Wojciech, Donnerstag Ludwik. Die Kopien der Blätter wirken verschwommen und verzerrt, als sei man schon nach dem ersten Schluck betrunken, aber lesen kann man sie noch. Sogar das Blatt, das vor Ludwiks verbrannter Bude lag, hat Paolo mir noch kopiert. Hat es vermutlich glattgestreift, den schweren Deckel des Kopierers daraufgepresst, und ab.

Mal reinlesen.

Ihre Reform bestand in der Rückkehr zum Ideal entsagender Armut, aber auch in der Abwendung von einer bloß eremitischen Lebensweise. Das neue Mönchtum stellte sich mitten in den Städten unter das Gewühl des Volkes.

Also eine neue Bewegung.

Das gedrückte Volk sah die verachtete Armut auf einem Altar erhöht und in die Glorie des Himmels gestellt. Der Zudrang zu den neuen Orden war daher sehr groß.

Hm, ein Triumph der Armen also.

Die Bettelbrüder beeinflussten alle Schichten der Gesellschaft. Sie verdrängten die Weltgeistlichen von den Beichtstühlen und Kanzeln; sie besetzten die Katheder der Universitäten.

Schönes Märchen.

Sie sahen und hörten alles. Sie wanderten wie die ersten Jünger‚ ohne Stab, ohne Sack, ohne Brot, ohne Geld’ und barfüßig durch das Land; aber diese Bettelscharen waren zugleich in Hunderten von Klöstern nach Provinzen organisiert und von einem Minister-General befehligt, auf dessen Gebot jeder einzelne Bruder bereit war, ein Missionar zu sein und ein Märtyrer, ein Kreuz- und Bannprediger, ein Friedensrichter, ein Truppenwerber für den Papst, ein Ketzerrrichter und Inquisitor.

Eine Anspielung auf die Obdachlosen, ein Wunschtraum?

Die Päpste machten aus ihnen immer kampffertige Heere, deren Unterhalt sie nichts kostete. Die Grundsätze von der göttlichen Gewalt des Papsttums wurden von diesen Bettelmönchen auf tausend Wegen in das Vorstellen der Menschheit geleitet, deren Gemüt durch Gewissensangst und Schwärmerei, durch Wohlwollen, Hingebung und Aufopferung zum duldenden Gehorsam unter die Gebote des unfehlbaren Papstes gebeugt ward.

Klingt nach Mittelalter. Der Papst hatte ja keine Soldaten, nur seinen Bannfluch hatte er, aber nun diese Bettelmönche.

Das ist eindeutig ein Auszug aus einem seriösen geschichtlichen Werk. Der Stil ist klassisch; so hat man im 19. Jahrhundert geschrieben, vielleicht noch in der ersten Hälfte des zwanzigsten.

Es ist jedenfalls weder die Luther-Bibel noch Nietzsche noch Hitler, da wird Paolo ganz schön enttäuscht sein. Wer ist der Autor? Ich trete durch den Vorhang auf den Balkon und nehme ein paar Atemzüge Nachtluft. Nicht besonders erfrischend. Am Tiberufer schimmern verhängt ein paar Lichter. In den Hütten sitzen Menschen, was tun sie da? Wie leben sie, die Bettelmönche? Bin ich nicht selber einer? Übrigens, so viel weiß ich: Aus der Askese der Mönche entstand die höfische Liebe, orientiert an der Zuwendung zu einem höchsten Wesen; die Strenge der Mönche lebte im Ritter, im Soldaten, im preußischen Beamten und wohl auch im Jogger weiter.

Unten auf dem Blatt steht übrigens steht als Seitenzahl 1302. Das ist also ein richtig dickes Werk, ein Klassiker vermutlich. Kenne ich nicht schon alles?

Jetzt aber Schluss. Warum lese ich nicht mal etwas Nettes? Es ist windig geworden. Ich fühle mich plötzlich alleine und wie jemand, der im Nachthemd im Wind steht: nichts hinter mir, nichts vor mir. Es ist ein Gefühl, als hätte sich in allen Ecken das Unheil versteckt. Dräuendes Unheil. Impending doom. Ich halte mich an der schlanken Verdicchio-Flasche fest, gieße mir noch ein Glas voll und setze mich in einen durchgesessenen Brauncord-Freischwinger. Es ist elf Uhr.

Besser ich lege mich hin. Ich muss mir die Arbeit einteilen. Ein Blatt pro Tag.

Wirre Träumen nicht vom Schulleben, sondern von brennenden Propheten und Dornbüschen, schreienden Menschen und zuklappenden Türen haben mich gequält. Und ich hörte jemanden laut und deutlich »Kaschmir« sagen. Ich mache Licht an und suche die alte Led-Zeppelin-LP heraus, schließe den Plattenspieler an, und dann dröhnen laut und stampfend die Klänge von Kashmir hinaus in die Nacht. Ein Zweidrittelmond ist an den Himmel geheftet. Ich bin der einzige in diesem graubrauen Palazzo, der bei Tageslicht aussieht wie zerbombt.

Die Trommelschläge fallen schwerfällig und unerbittlich in die schwüle Luft. Das Cello spielt im Stakkato, hypnotisch, zieht die Melodie in Schleifen hoch, dann schmettert das Orchester los und jagt eine Breitseite hinüber zum anderen Ufer. »Oh baby, I been flying. Lord, yeah. Mama, ain’t no denying. Oh. Mama. Ain’t no denying.« Dann wird die Musik orientalisch betörend, tritt auf der Stelle, füllt sich mit Spannung … »All I see turns to brown / As the sun burns the ground / And my eyes fill with sand / As I scan this razor line / Can I find, can I find where I beeeeen …« Der Sänger verlängert dieses »been«, schier unerträglich ist das, bis es sich vereint mit dem trimphalen Klang des Orchesters, das anschwillt wie ein startender Düsenjet.

Hier eine Live-Aufnahme von Led Zeppelin 2014: Kashmir!

Die Autos bahnen sich mit leuchtenden Augen ihren Weg durch die Nachtluft. Sie folgen einander auf der langen Brücke über den Tiber wie Flugzeuge auf Landeanflug. Sie schweben über das Tal wie von einem Kontinent zum anderen: von der Magliana hinüber zum Viertel EUR, Esposizione Universale Romano mit dem Pavillon der Kirche Peter und Paul und dem »Colosseo quadrato« daneben mit den vielen Bogenfenstern, schwarzen Augenhöhlen. Der Mond sieht in Schräglage von oben zu.

Schon zwei Mal hat sich seine Sichel mit Licht gefüllt, würde Vergil sagen, seit ich dieses Leben der Wildnis und der Hütten pflege. Der Mond steht scheinbar still. Auch »Kashmir« ist zu Ende. Als wäre ein Karussell zum Stehen gekommen.

 

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