Der Reiter

Die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen Körper, Geist und Seele fallen weg, wenn der Mensch im Tod seinen Körper ablegt. Vor tausend Jahren gab es im Orient feste Vorstellungen dazu, und der Philosoph Al-Ghazzali, der von 1055 bis 1111 lebte, schrieb in seinem Buch Die Alchemie des Glücks das Kapitel Das Wissen über die nächste Welt, aus der wir ein wenig zitieren.   

Die Wirkung des Todes auf die zusammengesetzte Natur des Menschen ist wie folgt: Der Mensch hat zwei Seelen, eine tierische Seele und eine spirituelle Seele, die zu den Engeln gehört.

Diese zweigestaltige Seele wurde von vielen Naturvölkern vertreten, wie manipogo erst im Januar erläuterte (Beitrag Geist und Seele). Die tierische Seele wäre das, was wir heute schlicht Seele nennen, die spirituelle Seele wäre der Geist oder die von Gott gesandte Lebenskraft. Mal sehen, wie Al-Ghazzali fortfährt.

Der Sitz der tierischen Seele ist das Herz, aus dem die Seele austritt wie ein feiner Dampf und alle Teile des Körpers durchdringt, wodurch sie dem Auge die Kraft des Sehens gibt, dem Ohr die Kraft zu hören und jedem Organ die Fähigkeit, seine jeweile Funktion zu erfüllen. Man kann es vergleichen mit einer Lampe, die in einem Anwesen herumgetragen wird und wessen Licht auf die Wände trifft, wenn sie vorbeigetragen wird. Das Herz ist der Docht jener Lampe, und wenn der Nachschub an Öl ausbleibt, stirbt die Lampe. Dies ist der Tod der tierischen Seele.

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Mit der spirituellen oder menschlichen Seele verhält es sich anders. Sie ist unteilbar, und durch sie kennt der Mensch Gott. Sie ist sozusagen der Reiter der tierischen Seele, und wenn diese vergeht, lebt sie weiter, ist aber wie ein Ritter, der absteigen musste oder wie ein Jäger, der seine Waffen verloren hat. Jenes Pferd und jene Waffen waren der menschlichen Seele gewährt worden, damit sie mit ihnen den Phoenix der Liebe und des Wissens von Gott verfolgen und fangen könnte. Wenn ihr das gelungen ist, bedeutet es keinen Schmerz, sondern eher eine Erleichterung, diese Waffen beiseite legen und von dem müden Ross absteigen zu können. 

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Daher sagte der Prophet: »Der Tod ist ein willkommenes Geschenk Gottes an den Gläubigen.« Doch wehe der Seele, die ihr Pferd und ihre Waffen verliert, bevor sie den Preis erobert hat! Ihr Jammer und ihre Reue sind nicht zu beschreiben. 

Der menschliche Geist will in jene obere Welt zurückkehren, weil er von ihr herstammt und weil diese von der Natur der Engel ist. Er wurde in diese niedrigere Sphäre gegen seinen Willen geschickt, um Wissen und Erfahrungen zu erwerben, wie Gott im Koran sagt: »Geht hinunter von hier, ihr alle; von Mir wird euch Weisung kommen, und die, die ihr folgen, müssen nichts fürchten …« 

Al-Ghazzali schreibt, der Koran zeige, dass der Tod die hauptsächliche Individualiät des Menschen nicht zerstört. Wenn der Tod einem Menschen nur seine Persönlichkeit gelassen habe, müsse dieser, da er geliebte Dinge und Menschen zurücklassen musste, unglücklich sein — wer sich allerdings von diesen Anhaftungen gelöst habe, werde den Tod als Ausweg begrüßen und als Weg zur Vereinigung mit dem, den er liebt.

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Der Autor war Sunnit und verehrte Imam Ali, den Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Von Ali überlieferte Al-Ghazzali ein Streitgespräch mit einem Ungläubigen, der nicht an ein Jenseits glaubte, und Ali habe so argumentiert: »Wenn du recht hast, wird es künftig keinem von uns schlechter ergehen; aber wenn wir recht haben, werden wir davonkommen, und du wirst leiden.« Die wichtigste Aufgabe des Menschen in dieser Welt bestehe darin, sich auf die nächste vorzubereiten. Auch wenn er im Zweifel ist über eine zukünftige Existenz, sagt ihm die Vernunft, er solle so handeln, als sei diese eine Gewissheit, denn zu vieles steht auf dem Spiel.

Genau das hat der französische Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) über 500 Jahre später gesagt, und es wurde als Pascals Wette bekannt.

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