Der Schimmelreiter

Die Novelle Der Schimmelreiter, letztes Werk von Theodor Storm (1817-1888), war bei uns Schullektüre. Da ich erst kürzlich am Deich war, las ich sie noch einmal und merkte, dass sie ja zu manipogo passt: Es ist (auch) eine Gespenster-Geschichte. Storm schrieb realistisch, doch in ihm war immer auch die andere Welt, die in unsere hineinragt …

Derjenige, der die schauerliche Geschichte zu berichten beabsichtigt, beruft sich auf einen anderen Erzähler, der darüber in einer Zeitschrift schrieb, sich dabei auf einen weiteren Erzähler berufend, einen Schullehrer, der ihm das Leben des Deichrafen Hauke Haien in allen Details geschildert habe. Es beginnt damit, dass der Zeitschriften-Erzähler im Oktober eines Jahres zwischen 1830 und 1840 bei Sturm den Deich entlangreitet.

20230729_173238

Jetzt aber kam auf dem Deiche etwas gegen mich heran; ich hörte nichts; aber immer deutlicher, wenn der halbe Mond ein karges Licht herabließ, glaubte ich eine dunkle Gestalt zu erkennen, und bald, da sie näher kam, sah ich es, sie saß auf einem Pferde, einem hochbeinigen hageren Schimmel; ein dunkler Mantel flatterte um ihre Schultern, und im Vorbeifliegen sahen mich zwei brennende Augen aus einem bleichen Antlitz an.

Kein Hufschlag war zu hören, und noch einmal gleitet die Erscheinung an ihm vorbei, und dann, fern voraus, taucht ihr Schatten ab und geht die Binnenseite des Deichs hinunter. Der Schimmelreiter! Das wissen sie im Gasthaus, das rufen sie ehrfürchtig aus, und ein hagerer Mann, der Schulmeister, bietet sich an, die ganze Geschichte zu erzählen.

Hauke Haien, der Sohn des Deichgrafen, war anstellig, fleißig und intelligent. Doch fehlte ihm Grundbesitz, um seinem Vater nachzufolgen; Elke Volkerts und er haben sich lieb, und ihre Verlobung stattet Hauke mit genügend Grundbesitz aus, um seinen Traumjob zu bekommen. Die Ehe wird glücklich, bleibt aber kinderlos, und beide Eheleute arbeiten hart. Hauke Haien ist ein guter Mann, der jedoch viel von seinen Helfern verlangt. Er sieht auch, dass die Deiche zu steil gebaut sind: Das Meer kann hineinschlagen und Löcher verursachen.

064Und er will einen neuen Koog erbauen, der später auch Hauke-Haien-Koog heißen wird. Unmut tritt auf; die Einheimischen wollen keine Veränderungen und reden schlecht über den Deichgrafen. Zwei Männer sahen in der Jevershallig immer das Gerippe eines Pferdes; plötzlich ist es weg, und Hauke hat ebenso plötzlich einen Schimmel, ein rätselhaftes, heruntergekommenes Tier, das er einem Händler abgekauft hat. Fortan sind der Schimmel und Hauke Haien eine Einheit. Man weiß: Das Pferd, gerade ein weißes, ist oft ein Symbol für den Tod (etwa in den Filmen Asche und Diamant und Unter dem Vulkan).

Der Koog wird gebaut, und möge es auch stürmen und wehen! Hauke Haien träumt von Wohlstand und will nur das Beste für seine Gegend. Wie gesagt: ein guter, pflichteifriger Mann, vielleicht etwas streng, aber anders geschieht nichts.

20230729_174426

Doch das Leben meint es nicht allzu gut mit ihm. All die geheimen Widerstände gegen seine Maßnahmen, und dann, endlich, bekommt Elke ein Kind, doch es ist geistig behindert. Bis dann ein schrecklicher Sturm naht, eine Sturmflut, eine Jahrhundert-Katastrophe, und sie bringt den Untergang und erklärt vielleicht, warum der Schimmelreiter dazu verdammt ist, ewig den Deich entlang zu reiten und sich den Deich hinabzustürzen. Der Deich und seine Familie waren sein Leben, von dem er sich nicht lösen konnte; und so wurde er zum erdgebundenen Geist, der aber immer auf Erlösung hoffen darf.

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.