Die mächtigen Alten

Keine Angst vor dicken Büchern! Ich gönnte mir (Fundstück in einem Regal) den 500-seitigen Aufsatz »Das Alter« (La vieillesse)  von Simone de Beauvoir (1908-1986), die viel für die Frauenbewegung getan hat. 1970 ist das Buch erschienen, eine Gallimard-Ausgabe. 

OIPrussell1Sie blickt auf die sogenannten primitiven Gesellschaften zurück, deren soziales Leben von Ethnologen eingehend erforscht wurde. Wir bleiben heute mal positiv und stellen Stämme vor, bei denen die alten Menschen geachtet wurden und einen hohen Rang einnahmen; denn natürlich gab es auch viele wie etwa Nomaden, die ihre Alten zum Tod verurteilten (wenn sie nicht mehr mitkonnten).

Ein schönes Beispiel bieten die Aranda in den Wäldern Australiens. (In welcher Form es sie heute gibt, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie längst zerstreut oder in Reservate geschickt worden.) Sie waren Jäger und Sammler, und damit sie überleben können, müssen sie eine Menge wisssen: Was ist bekömmlich, wie bereitet man Pflanzen und Tiere zu, wo findet man Wasser, wie jagt man? Die Alten wissen das am besten.

053Außerdem kennen sie die heiligen Traditionen: Gesänge, Mythen, Zeremonien, Bräuche. Dieses Wissen ist untrennbar mit Magie verbunden. Die alten Menschen bei den Aranda durften alles essen (für die anderen galten Nahrungs-Tabus) und leiteten oft die religiösen Zeremonien als Chefs. Sie sind älter, also näher dran an der Anderen Welt. Die alten Männer bei den Aranda durften sich sogar bei den jungen Mädchen bedienen; sie waren für sie reserviert. Die alten Frauen sagten: ›Mein Mann braucht eine junge Ehefrau, die für ihn Honig und Wasser sucht.‹ So kümmert sich die Junge um das alte Paar.

Die Zande leben im Sudan, in der Savanne. Sie finden reichlich Wild. Sie glauben auch an einen Gott, den sie Mbori nennen. Beständig fürchten sie, verhext zu werden. Die Alten sind große Zauberer und haben auch keine Skrupel, ihre Magie einzusetzen; also sind sie die heimlichen Herrscher des Dorfes. Man fragt sie, ob eine Jagd gut ausgehen wird und wie das überreich getötete Wild verteilt werden soll. Wenn ein Alter stirbt, sagen sie: Mbori hat ihn zu sich genommen. Und sie sagen: Er hat seinen Teil gegessen.

1244-03_014Die Indianerstämme der Chorati, Mataco und Toba leben im Gran Chaco in Südamerika, essen Früchte und züchten Strauße. Es gibt genug Nahrung, darum nimmt das religiöse Leben breiten Raum ein. Die alten Männer sind die Zeremonienmeister, und man fürchtet ihre Magie. Wenn jemand alt und schwach geworden ist, wird er durch einen Pfeil ins Herz getötet, sein Körper verbrannt. Je älter jemand wird, desto größer ist die Gefahr, dass er als böser Geist wiederkehren und das Dorf tyrannisieren könnte. (Diese Angst herrschte bei vielen Stämmen.)

Auch die Navajo-Indianer in Nordamerika geben ihren Alten viel Autorität. Sie leben im Nordosten von Arizona, wo es oft regnet und es an Nahrung nicht fehlt, sogar Überfluss herrscht. Pferde und Rinder haben sie, und sie essen Fleisch und Brot. Die Gemeinde kümmeert sich um die Alten und versorgt sie. Auch bei den Navajos hatte man Angst vor ihnen; die Hälfte der Zauberer waren alte Menschen, und ihre Macht war groß. Wenn ein alter Mensch zufrieden und müde stirbt, ist alles in Ordnung; er wird wiedergeboren werden. Stirbt er in Wut und Auflehnung, ist zu befürchten, dass er als böser Geist zurückkommt und Rache nimmt.

Auch die Jivoro sind eine wohlhabende Sippe. Sie leben im Tropenwald am Fuß der Anden in Südamerika. Die Männer jagen, die Frauen bearbeiten die Erde und formen Keramik. Alles spielt sich in den Familien ab, ohne Politik. Die alten Menschen sind geachtet. Sie geben ihr Wissen über Pflanzen und Tiere weiter und kennen die Mythen und heiligen Gesänge. Man schreibt ihnen übernatürliche Kräfte zu. Alte Männer und Frauen leiten die Zeremonien, und Alte führen Krieger an, denn ein beliebter Zeitvertreib bei ihnen ist der Krieg. Sie überfallen gern andere Stämme. Oder überfielen … Wie gesagt, es ist fraglich, ob diese Völker noch in dieser Freiheit leben.

 

Genug für heute. Das waren alles Stämme mit ausreichend zu essen und friedlichem Leben. Wenn es knapp hergeht oder die Wanderschaft beginnt, sind die Alten natürlich die ersten, die zurückgelassen oder vernachlässigt, manchmal sogar getötet werden.

Unsere westliche Gesellschaft ist ja wohlhabend wie keine andere zuvor in der Menschheitsgeschichte. Sie fusst auf der Technik, auf den Maschinen, und das Leben ist nicht mehr so anstrengend; da spielt das Wissen der alten Menschen keine Rolle mehr. Außerdem hat sich der Verband der Großfamilie aufgelöst. Die Kleinfamilien leben heute ruhig vor sich hin und wollen sich in ihrer Verfolgung von Konsum und Reisen nicht stören lassen. Und die Alten stören; also ab ins Heim!

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