Sie wollte nicht töten

Am 21. Mai 878 fielen die Sarazenen über Syrakus an der Ostküste Siziliens herein. Sie ermordeten die Einwohner »mit grausamer Wut und verbrannten die geplünderte Stadt«, wie der deutsche Chronist Ferdinand Gregorovius schrieb. Im Jahr 902 war Sizilien arabisch, und von 948 bis 990 brachte der Emir Hassan-ben-Ali Frieden und Wohlstand. Die Städte wurden reich, »und immer neue Scharen kamen von Afrika herüber. Gleich dem maurischen Spanien begann Sizilien aufzublühen.«

Die glückliche Zeit dauerte 80 Jahre. Dann kamen neue Wirren und 1072 die Normannen, die die Araber vertrieben. Die Scharen, die von Afrika herüberkommen, landen heute auf Lampedusa, um in Italien und anderen europäischen Ländern ihr Glück zu suchen. Anfang Oktober vergangenen Jahres ertranken 300 Menschen vor Lampedusa, ein Jahr zuvor verloren 65 Tunesier ihr Leben. Der Bürgerkrieg in Syrien kostete 150.000 Menschen das Leben, und zwei Millionen sind auf der Flucht.  

Manchmal werden Bücher über Einzelschicksale veröffentlicht. Eines ist Ich wollte nicht töten! (deutsch 2007) der jungen Eritreerin Feven Abreha Tekle, im Original auf Italienisch 2005 veröffentlicht. Die junge Frau wuchs glücklich in Asmara in Eritrea auf, das 1993 als 53. souveräner Staat Afrikas unabhängig wurde. Im Jahr 2000 zettelte Eritrea einen erneuten Krieg gegen Äthiopien an, in dem es um einen Streifen Landes ging, was 80.000 jungen Menschen das Leben kosten sollte. »Grauenvolle Geschichten« überall, schreibt Raffaele Masto, der dann mit Feven zusammen das Buch schrieb.  

Sie wollte nicht töten: Denn sie wurde zum Militärdienst eingezogen und musste sich allen möglichen Strapazen unterziehen. Sie beschließt zu fliehen. »Ich liebte mein Land und liebe es noch immer, und ich wusste, dass diese Flucht einen unwiderruflichen Schritt bedeutete.« Ihr Vater konnte die hohe Summe für die Flucht aufbringen (1000 Dollar), und so begibt sie sich erst nach Addis Abeba, muss zurückkommen, doch ein zweiter Versuch gelingt.  

Zwei Jahre war Feven Abreha Tekle unterwegs. Sie musste sich in die Hände geldgieriger, zynischer Schlepper begeben, sah Menschen sterben, wurde im Sudan ausgepeitscht, weil sie sich zusammen mit drei Männern in einem Haus aufgehalten hatte, und dann überlebte sie auch die Fahrt in einem heruntergekommenen Boot hinüber von Libyen nach Lampedusa.  

Feven schrieb: »Schließlich ist mein Traum doch noch in Erfüllung gegangen. Mein Leben ist wie das von Millionen anderer Immigranten. Tagsüber verdiene ich mein Geld als Zimmermädchen in einem Hotel, abends als Kellnerin in einem Restaurant.« Ihr Cousin Tesfay, der ihr begeistert aus Deutschland geschrieben hatte, arbeitet auf dem Markt. Und am Ende: »Natürlich bin ich in Gedanken immer in Eritrea, bei all den Menschen, die ich kenne. An erster Stelle bei meinem Vater, meiner Mutter und meinen Brüdern. Ich empfinde eine unendliche Liebe für sie …« 

In Eritrea war sie eine hervorragende Schülerin gewesen, aber es gab keine Arbeit und wenig Hoffnung. Der Militärdienst war eine Qual. Tesfay hatte als erster den Schritt hinaus aus dem, Land getan, er eröffnete eine Utopie. Doch ich denke mir (was sie sich auch manchmal gedacht haben mag): Der Preis war hoch, zu hoch vielleicht. Man kann auch aus dem Regen in die Traufe geraten. Feven ist nun entwurzelt, und wenn sie Kinder haben wird, werden diese als kleine Italiener aufwachsen, die vielleicht, wenn sie Glück haben, einmal ihre Großeltern sehen können. Bertolt Brecht, der Emigrant, schrieb: Ihr aber, wenn es so weit sein wird / Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.

 

 

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