Die Träume des Rabbi Wechsler aus Schwabach
Rabbi Hyle Wechsler stammte aus einer Familie prominenter Rabbiner. Er lebte, immer kränklich, von 1843 bis 1894, und er hatte einige prophetische Träume. »Wenn der Traum einen enthüllenden Charakter hat«, schrieb er, »gleicht er einem Bildrätsel«, und oft ließen sich Parallelen dazu in der Bibel finden.
Jakob glaubt an die Träume seines Sohnes Josef und daran, dass dieser zu Höherem berufen ist. Daniel entschlüsselt die Träume von König Darius; im Buch Daniel geht es fast nur um Träume, die als göttliche Offenbarung galten. Zu Wechslers Zeit jedoch, die sich zunehmend Wissenschaft und Technik ergab, galten Träume nicht viel, bis die frühen englischen Parapsychologen und Sigmund Freud ein neues Kapitel aufschlugen.
Ein früher Traum sagte Wechsler, dass er berufen sei, die Wahrheit auszusprechen. Der spätere Rabbiner lebte sehr zurückgezogen und sah alles, was ihm widerfuhr, als Zeichen Gottes. Sexuelle Anfechtungen waren auch durch die Konzentration auf die himmlische Tochter, die Shekina, kaum zu überwinden, aber zum Glück lernte er seine Kusine Clara kennen und heiratete sie. Sein Haus war beliebt, und er war ein begabter Lehrer. Rabbi Hyle Wechsler glaubte an seine Träume, glaubte auch an She’elat Shalom: Wenn du ein Problem hast, bitte um einen Traum oder frage im Traum nach Antwort, und du erhältst sie.
1873 hatte er vier wichtige Träume. In jenem Jahr wurden die Juden in Rumänien verfolgt. Da träumte der Rabbi, er stehe auf einem Berg und predige in Rumänien, die dortigen Juden sollten sich nicht in falschen Hoffnungen wiegen, nach Eretz Israel gehen, sich dort niederlassen und Ackerbau betreiben. Eine Reihe seiner Zuhörer schien dazu geneigt gewesen zu sein. ― Erst fünf Jahre später wurde in Israel die erste Kolonie für Europäer errichtet, betrieben von ungarischen Juden.
Dann träumte er: »Ich sah im Osten ― in der Nähe Rumäniens ― ein schreckliches Gewitter, und von dort kommend eine Masse bedrohlicher dunkler Wolken, die … nach Deutschland zogen, bevor sie Österreich-Ungarn erreichten.« Die Feindseligkeit gegen die Juden würde zuerst in Deutschland Wurzeln schlagen, schloss er, und dann andere Länder ergreifen. 1878/79 kam es dann zu antisemitschen Ausschreitungen. Wechsler schrieb, auch hier prophetisch: »Man will das semitische Element zerströren … man will die Juden derart radikal foltern und ruinieren, dass ihre Atome nie mehr verbunden und wieder zusammengesetzt werden können.« Das klingt wie eine Vorahnung der Vergasung, lässt an den Rauch denken, der aus Schornsteinen dringt.
Durch Zeichen fühlte sich der Rabbi gedrängt, seine Warnungen zu veröffentlichen, aber er stieß auf Widerstand. Vor allem Rabbi Samson Raphael Hirsch, ein einflussreicher Orthodoxer und Anführer der deutschen Judenheit, bedrohte ihn. Hirsch wollte seine Kontakte zur deutschen Politik nicht gestört wissen. Doch himmlische Zeichen bedrängten Wechsler, der schließlich im Mai 1881 seine Broschüre Ein Wort der Mahnung an Israel um die Beherzigung der Judenhetze und einige merkwürdige darauf bezügliche Träume.
Das Pamphlet war eine Bedrohung für die jüdische Gemeinschaft, die beschloss, es zu ignorieren. Nirgends finden sich Hinweise darauf. Rivka Horwitz (1926-2007) schrieb: »Die deusche Judenheit … fühlte sich in Deutschland unsicher und dem traditionellen jüdischen Leben entfremdet, das in Osteuropa noch existierte. … Man schrieb 1880, und die deutschen Juden erfuhren … die Bedrohung des Antisemitismus, und sie fürchteten, dass Wechsler Recht haben könnte, was ihnen Angst einjagte. Wie sie die Geschichte behandelten, verweist deutlich auf ihr Problem.«
(Quelle: Rivka Horwitz, The Mystical Visions of Rabbi Hyle Wechsler in the 19th Century, 257-274, in: Grözinger, Karl Erich, Dan, Joseph (Hg.): Mysticism, Magic and Kabbalah in Ashkenazi Judaism, International Symposium held in Frankfurt a. M. 1991, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1995)