Flugverkehr (65): Nacht in der großen Pyramide

Paul Brunton (1898-1981) war ein englischer Theosoph, der ziemlich erfolgreich Weisheiten aus Indien und Ägypten mit westlichem Gedankengut verknüpfte. Die 25 Seiten lange Episode Eine Nacht in der großen Pyramide findet sich in seinem Buch Geheimnisvolles Ägypten. Fantastisch.

So fantastisch klingt das, das man fast ins Zweifeln gerät. Es gelingt mir einfach nicht, den Zweifler in mir zum Schweigen zu bringen; aber ich will die Geschichte dennoch wiedergeben, sie ist beeindruckend. Dabei dachte ich an eine Reise nach Ägypten im Januar 1994, die ich nie vergessen konnte. Ich hatte eine schöne Begleiterin, wir waren eine kleine Gruppe, und die Magie Assuans, Luxors und Kairos schlug uns völlig in ihren Bann.

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Mit Mühe gelingt es Brunton, den ägyptischen Funktionären die Erlaubnis abzuringen, eine Nacht in der Cheops-Pyramide verbringen zu können. Er windet sich durch Kanäle, kriecht durch enge Durchlässe und findet die Königskammer exakt in der Mitte der Pyramide. Dort legt er sich hin, in die völlige Dunkelheit, neben ihm einen leeren Steinsarg. Er meditiert und erzählt dann:

Es war etwas um mich her, das ich als böse und gefährlich empfand. Ein namenloses Entsetzen ergriff mich und kam immer wieder … Schatten begannen hin- und herzuschwanken in dem schattenlosen Raum … Unheimliche Bilder erhoben sich vor meinem geistigen Auge. … Uralte Geister schienen aus der benachbarten Totenstadt heraufgekrochen zu sein, einer Totenstadt, die so alt war, dass die Mumien in ihren Steinsärgen verfallen waren. … Endlich kam der Höhepunkt: Riesige Urgeschöpfe, scheußliche Schreckbilder der Unterwelt, Formen von groteskem, wahnsinnigem, ungeheuerlichem, teuflischem Aussehen scharten sich um mich und erfüllten mich mit unvorstellbarem Abscheu. … Das Ende kam mit erstaunlicher Plötzlichkeit.

Die bösen Geister verschwinden, und eine freundliche, wohlwollende Gegenwart wird in der Kammer spürbar. Zwei Gestalten mit weißen Kleidern tauchen auf: vor seinem geistigen Auge. Es war ein Lichtschimmer um sie her, der auf sehr seltsame Weise diesen Teil des Raumes beleuchtete. … Sie standen reglos wie Statuen, sahen mich mit über der Brust gekreuzten Armen an und schwiegen.

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Der eine Geist empfiehlt sich bald, der andere, ein alter Mann, verkündet dem Abenteurer, er würde heute nacht in die Lehrhalle geführt werden und solle sich auf dem Stein ausstrecken. Kälte kommt über ihn, ein Herzkrampf meldet sich, und Paul Brunton befürchtet sein Ende. Er erlebt eine klassische Nahtod-Erfahrung.

Ich hatte das Gefühl, in einen tropischen Wirbelwind eingefangen zu sein, durch ein enges Loch zu fliegen. Dann kam ein Augenblick der Angst vor dem Hinausgeschleudertwerden in die Unendlichkeit, ich sprang ins Unbekannte – und war frei! … Zuerst lag ich, über dem Steinblock schwebend, genau wie der Körper, den ich eben verlassen hatte. Dann kam das Gefühl, als ob eine unsichtbare Hand mich aufrichtete, und nachdem sie mich etwas vorwärts geschoben hatte, auf die Füße stellte. … Ich blickte herab auf den verlassenen Körper aus Fleisch und Bein, der flach und reglos auf dem Steinblock lag. … Ich beobachtete, dass eine Spur silbrigen, zarten Lichts von mir herabfloß von meinem neuen Ich zu dem Geschöpf, das starr auf dem Block lag. Das war überraschend, aber noch überraschender war meine Entdeckung, dass diese geheimnisvolle, psychische Nabelschnur zur Beleuchtung der Ecke der Königskammer beitrug, in der ich schwebte. …

cheops2Ich wusste nun endlich, warum diese weisen alten Ägypter in ihren Hieroglyphen die menschliche Seele als Vogel symbolisiert hatten. Ich hatte ein Gefühl zunehmender Höhe und Breite empfunden, eine Ausdehnung, als ob ich Flügel hätte. War ich nicht in die Luft geschwebt und schwebend über meinem verlassenen Körper verblieben, wie ein Vogel gen Himmel steigt und rund um einen Punkt kreist? Hatte ich nicht das Gefühl, von einer großen Leere umgeben zu sein? Ja, das Vogelsymbol entsprach der Wahrheit. (…) Mein irdischer Leib hatte mich, mein eigentliches Ich, tatsächlich gefangen gehalten, aber nun war ich frei. Ich war auf diesem Planeten hin- und hergetragen worden durch einen Organismus, den ich lange mit meinem wahren zentralen Selbst verwechselt hatte. Die Schwerkraft schien aufgehoben, und ich schwebte tatsächlich in der Luft, mit dem seltsamen Gefühl, halb zu hängen, halb zu stehen.

Solche Beobachtungen sind wichtig, um nicht überrascht zu sein, wenn wir eines Tages diese selbe Reise antreten; ohne Rückkehr jedoch. Der alte Priester taucht auf und spricht: »Du hast nun die große Weisheit gelernt. Der Mensch, der aus dem Unsterblichen geboren ist, kann niemals wirklich sterben.« Sie gehen einen Gang entlang, und der Hohepriester gibt ihm noch eine Weisheit mit.

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»Mein Sohn, es ist gleichgültig, ob du die Türe entdeckst oder nicht. Finde du den geheimen Eingang in dir selbst, der dich in die verborgene Kammer deiner eigenen Seele führen wird, und du wirst das wahrhaft Wertvolle gefunden haben. Das Mysterium der Großen Pyramide ist das Geheimnis deines eigenen Ichs. Die geheimen Kammern und alten Urkunden finden sich alle in deinem eigenen Wesen. Was die Pyramide lehrt, ist, dass der Mensch sich nach innen kehren, zu der unbekannten Mitte seines Seins hinfinden muss, um seine Seele zu entdecken, so wie er sich in die unbekannten Tiefen dieses Tempels wagen muss, um dessen tiefstes Geheimnis zu erforschen. Lebewohl!«

Meine Gedanken wurden von einem Wirbel erfasst; ich glitt hilflos abwärts, immer abwärts gezogen; eine schwere Betäubung kam über mich, und mir schien, als sänke ich zurück in meinen physischen Leib.

Mit diesem wankt Brunton dann im Morgengrauen aus der Pyramide, erschöpft, zerschlagen, aber auch bereichert.

(Geheimnisvolles Ägypten, Rascher-Verlag 1966, S. 59-86; Illustrationen: meine Reise in Ägypten und aus dem Ägyptischen Totenbuch)

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