Formvollendet
Der »Baum des Lebens« der Kabbala zeichnet über zehn Stationen den Weg des Geistes hinab in die Materie nach, in die Verwirklichung; und dann auch, umgekehrt, den Weg der Seele empor zum Geist. Energie braucht Form, damit sie Information wird. Meine Reise nach Frankreich war glücklich, weil sie formvollendet war.
Ein großes Wort: formvollendet. Das muss ich erklären (mi spiego, sagt der Italiener): Magische Operationen wollen die Natur beeinflussen. Ein strenger Versuchsaufbau im Kleinen, dann die Zeremonie mit der Gewissheit, dass – wie unten, so oben – sie Wirkung zeigen wird. Doch ich kann auch das reale Leben einer Form unterwerfen, was nicht gewaltsam geschehen soll, sondern organisch und »richtig«. Dann kann das Leben magisch werden.
Ich hatte für meine Reise geistige Ziele: Ich wollte das Buch »Tore des Lichts« von Rabbi Joseph Gikatilla lesen (370 Seiten) und mein geplantes Buch über Elektrizität/Elektrosmog konzipieren und durchlesen. Ein wenig Rennrad fahren wollte ich und meine Ruhe haben. Ich guckte mir auf der Karte den Ort Pont St. Esprit aus, weil der Heilige Geist und überhaupt der Geist darin war. Der Name leitete mich. Von Kether über Chockmah zu Binah: Der Plan ist gefasst, die Energie fließt, es beginnt.
Ich fuhr also 600 Kilometer auf der Autobahn, parkte, stieg im Hotel de la Bourse ab und blieb dort eine Woche … und ließ mich vom Leben leiten. Am Sonntag war ein großer Frühlingsmarkt, den mitzuerleben noch schön wäre, und dann würde ich weiterfahren nach Les Saintes Maries de la Mer. In Pont St. Esprit las ich die ersten sieben (von zehn) Sphären des Rabbi Joseph, jeden Tag eine, ich klebte die Dateien meines Buches zusammen, komponierte Überleitungen, las den Anfang des Textes.
Drei Fahrradtage waren drin, jedes Mal exakt von zwölf Uhr bis fünf Uhr, wie ein Automat, am Abend im Internet, fernsehen (das Spiel Olympique Marseille gegen Monaco war packend, endete 3:4, da arbeitete ich nicht), Wein trinken und rauchen. Am Wochenende hieß es im Wetterbericht, eine Störung nähere sich, Anfang nächster Woche würden Sturmböen von 100 Kilmetern pro Stunde die Mittelmeerküste entlangfegen.
Ich änderte meine Pläne. Das Zelt am Meer aufzubauen konnte man vergessen. In Les Saintes Maries hatte der Wind mir schon einmal ein Zelt kaputtgerissen, weil ich es ungeschickt aufgebaut hatte. Und Hotelurlaub ist teuer – jeden Tag 60 Euro. Vauvert war mir wichtig, wegen der Kabbala-Schule Posquières. Also dachte ich mir: Fahr doch nach Vauvert, bleib dort noch drei Tage, dann bist du schon in der Nähe der Autobahn, und dann fährst du zurück. Gesagt, getan. In Vauvert las ich über die letzten drei Sphären des Rabbi. Ich fuhr mit dem Rad nach Lunel und am letzten Tag, als ich über die höchste Sphäre gelesen hatte, Kether, nach St. Gilles (die Kathedrale wurde 1165 erbaut, als die Kabbala-Schule begonnen hatte) und nach Aigues-Mortes, zu den toten Wassern.
Das Meer sah ich nicht, die Gegend ist verlandet, ich hätte noch 8 Kilometer nach Le Grau-du-Roi radeln müssen. Ich kehrte um. Die Kabbala-Rabbis der Provençe sagten, die Quelle des Geistes, die sie Aijn und Ain Soph nannten, sei jenseits der Schleier und unerreichbar; man dürfe darüber nicht sprechen. Der wahre liebende Gott ist fern der Welt (ein gnostischer Gedanke). Das Meer war für mich der Große Geist, und ich durfte es nicht sehen.
Dann wusste ich, dass meine »Mission« beendet war. Ich hatte die Tore des Lichts gelesen und hatte auch mein Buch ganz durchgearbeitet. Mehr war nicht zu tun. Wie schon erwähnt: Mein Hotel in Vauvert hieß »Lys d‘Or«, die goldene Lilie, das passte zu Sha’are Ora (Licht und Gold hat dieselben Wurzeln), und ich hatte Zimmernummer zehn, die zehn Sphären und Sephiroth der Kabbala. Vauvert, darin steckt ja der hebräische Buchstabe Vau (oder Wau bei uns), und Gikatilla schreibt, das Vau, dritter Buchstabe des Gottesnamens YHVH (Yehovah), bilde die sechs unteren Sefiroth des Kabbala-Baums ab (Y steht alleine, das I ist die Krone; YH bildet die oberen sechs ab; das letzte H ist Malkuth, die Erde). Eigenartig allerdings, dass ich in Pont St. Esprit, dem Ort mit dem Geist, gerade die sieben unteren Sefiroth bei Gikatilla las und in Vauvert, dem unteren Bereich zugeordnet, die höchsten Bezirke. Doch das ist in Ordnung, der Lebensbaum fließt und ist einer, Kontraste sind möglich und bereichernd.
(Abbildung: Leda und der Schwan, auf einem Brunnen am Hauptplatz von Vauvert)
Der Aufenthalt in Pont St. Esprit und in Vauvert wurde dann jedes Mal gekrönt (Kether: die Krone) durch schöne Frauen: Auf dem Frühlingsmarkt sah ich ein Mädchen, das der Schaupielerin Sabine Azéma glich, wunderschön, und mit der blutjungen blonden Frau des Hotelbesitzers in Vauvert durfte ich mich unterhalten und ihr von den Rabbis erzählen. Man ist ja damit zufrieden, eine Frau betrachten zu können … das kommt demnächst auf manipogo. Die Verbindung zum Göttlichen.
Am Mittwoch (8. März, der Tag der Frau) fuhr ich zurück. Nahm aus einer Kiste in einer Tankstelle noch das Buch Die wissenden Frauen von Molière mit, ein Theaterstück aus dem Jahr vor seinem Tod. Das alles heißt, im Leben symbolisch zu handeln und achtzugeben auf die »Rufe«. Dann steht dieses Leben mit all seinen Manifestationen für etwas Größeres und wirkt wie ein Theaterstück (etwa von Molière). Jean-Louis, den ich einmal in der Nähe getroffen hatte (zu sehen nebenan), sagte, man müsse sich »vom Leben leiten« lassen. Das ist es, was die Chinesen unter dem Tao verstehen. Ich folge meinen Plänen, soll aber die Zeichen deuten wissen und ihnen folgen. Was will das Leben von mir? Was soll ich tun? Von dem Geld, das ich mitgenommen hatte (400 Euro), blieben mir, als ich nach der Rückreise vor dem Markt meines Ortes stand, noch zehn Euro übrig. Ich gab sie dort aus und am nächsten Tag alles bis auf 6 Cent. Die Rechnung war rundum aufgegangen.