Im Brüllzimmer
Heizungsreparatur. Da kam Ende Juni Merdad in meine Wohnung, ein persischer Monteur. Er ist nicht mehr jung, vielleicht schon 50, aber seine Frau hat vor einem Monat einem Sohn das Leben geschenkt, den er sich nach der Arbeit auf die Brust legt. Und zu denken, wie das bei uns war, früher …
Mir fiel eine Stelle in dem Buch Nestwärme des Tierforschers Vitus Dröscher ein, und das war whl auch mein Schicksal. Seit 1955 und noch bis etwa 1980, schreibt Dröscher, habe man in den üblichen deutschen Entbindungskliniken das Neugeborene isoliert. Die Mutter bekam es nach der Geburt zwanzig Sekunden lang.
Stunden später erst sieht die Muter das dick als Windelpaket vermummte Wesen wieder und bekommt es dann nur noch fünf- oder sechsmal am Tag für je zwanzig Minuten zum Säugen. Die überwiegende Trennung und die mangelhafte Gelegenheit vor allem zum direkten Körperkontakt vermindern während der entscheidenden Phase nach der Geburt die Entfaltung der vollen emotionalen Bindekräfte.
Millionen Menschen seien von diesem Liebesdefizit betroffen. So war das auch bei mir, 1957 geboren. Mein Vater erzählte, er sei an ein Fenster geführt worden, und irgendwo da hinten lag sein Sohn in einem Bettchen und jammerte vor sich hin. Dröscher erwähnt die
ungeheuerliche Barbarei gegenüber dem Neugeborenen. Es liegt mit etlichen anderen Wickelkindern im sogenannten Brüllzimmer … Niemand stellt sich anschaulich vor, was das für das Kind bedeutet. Schon die Geburt, der Austritt aus der Geborgenhei des Mutterleibes, ist für das Baby ein Schock. Es folgen das Abnabeln und die Schläge auf das Hinterteil, um das Kind zur selbständigen Atmung anzuregen … Doch dann folgt … das Schlimmste: Das Kind, von Natur aus ein sogenannter Tragling oder Mutterhocker, sehnt sich nach seiner Mutter, nach zarter Berührung, Körperwärme und dem beruhigenden Klang des Herzschlages. Aber von der Mutter, Gott und aller Welt verlassen, liegt es einsam in einem Bettchen und hört nichts als das vielstimmige fürchterliche Angstgeschrei seiner Leidensgenossen. Deren Todesfurcht überträgt sich auf den Neuling und er beginnt auch zu brüllen, bis er total erschöpft in Tiefschlaf sinkt. Beim Erwachen ist dann die Angst gleich wieder da.
Irgendwelche Studien legten nahe, das Neugeborene sei nur ein schreiender Fresser. Es müsse schreien, damit sich seine Lungen entwickelten. Was für eine zynische Aussage! Die kalte Ärzteschaft, diese Versammlung von Technokraten, stellte immer die Hypiene über das Gefühl.
Noch im April 1977 erklärte der Chefarzt einer großen Hamburger Frauenklinik: »Dass der Hautkontakt zwischen Mutter und Kind in den ersten Lebenstagn wichtig ist, dafür gibt es noch keinen Beweis – aber dass Hygiene für beide wichtig ist, dafür gibt es jede Menge von Beweisen.« … ein Kollege von einem anderen großen Krankenhaus pflichtete ihm bei: »Es ist nicht anzunehmen, dass der persönliche Kontakt für die Mutter-Kind-Bindung von Bedeutung ist. Das Kind verschläft ja achtzig Prozent der Zeit.«
Soviel zur Unmenschlichkeit der Ärzte. Es wäre eine Illusion zu glauben, nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich alles geändert. Alte Strukturen wirkten fort. Ich denke an ein Konzert von Led Zeppelin 1970, über das Robert Plant sagte, deutsche Polizisten mit Schäferhunden (!) hätten die Besucher gehetzt. Altnazis saßen damals noch in verantwortlichen Positionen. Erst die Studentenrevolution und ein neues Klima ließen es in den 1970er-Jahren zu Veränderungen kommen. Eine gewisse Herzlosigkeit gehört wohl zum deutschen Volkscharakter.