Jahrestage
»Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen.« So beginnt einer der besten deutschen Romane, die Jahrestage von Uwe Johnson. Die Szenerie ist das Meer vor der Küste New Jerseys.
Die erste Eintragung trägt kein Datum. Wir können uns nicht sicher sein, dass der 20. August 1967 gemeint ist; wir wissen nur, dass es mit dem 21. August 1967, einem Montag, weitergeht. 50 Jahre danach könnten wir den Roman verfolgen, wenn wir jeweils die Eintragung des Tages läsen. Die Jahrestage bestehen aus vier Bänden, der erste Band reicht bis zum 19. Dezember 1967. Und richtig, der zweite Band geht mit dem 20. Dezember 1967 weiter.
Worum geht’s? Geben wir einfach den Klappentext des Suhrkamp-Verlags wieder.
Auf mehreren Ebenen begeben sich die Ereignisse, die sich zum Ereignis dieses Buches summieren. Da ist einmal das tagtägliche New York der Bankangestellten Gesine und ihrer Tochter Marie: ein Terrain aus Schocks und Befremdungen, mit Oasen von Vertrautheit und dem festen Halt des Zeitungsstandes an der Ecke von Broadway und 96. Straße. Der wiederum eröffnet eine zweite Dimension: im Zwiegespräch mit der »New York Times«, in der ironisch-skeptischen Herbeizitierung von Polizeibericht und Vietnam-Meldung, von Lokal- und Globalnotizen gewinnt das Buch Weite und »Welt«.
Und drittens die (scheinbare) Provinz, das mecklenburgische Jerichow mit seinen Leuten: da wird die Familiengeschichte der Cresspahls erzählt, aber auch, wie die Nazis in so einer Gegend ihre katastrophenklägliche Geschichte machten. Wie die Figuren langsam zusammenkommen, die Episoden aufeinander eingehen, wie die vielen Fäden sich endlich verknüpfen zu immer festerem Stoff, deutlicherem Muster – das zeugt von einer dramaturgischen Meisterschaft, die ihresgleichen sucht. Diese »Jahrestage« könnten Epoche machen.
Das ist ein Text, der alles sagt und nicht zuviel verspricht. Uwe Johnson hatte sein Thema gefunden. Er hatte durch die Mutmassungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim schon aufhorchen lassen, als er sich an die Arbeit an dem Werk machte, das ihn die letzten 15 Jahre seines Lebens beschäftigen sollte. Von 1970 bis 1973 kamen die ersten drei Bände heraus, der dritte sei der schwächste, hieß es; und dann, 1983, nach zehn Jahren, setzte Johnson endlich den Schlusspunkt. Er war zwar in einer Lebenskrise, hatte aber auch finanzielle Probleme. Der Verlag wartete.
Der Band 4 der Jahrestage war die wichtigste Neuerscheinung der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1983. Es ist immer gefährlich, wenn ein Autor sein Hauptwerk abschließt. Das ist wie der Abschluss eines Lebens, und tatsächlich ist Uwe Johnson am 23. Feburar 1984 in Sheerness-on-Sea gestorben.
Da hatte er im Keller seinen Arbeitsraum mit allen Materialien, und manchmal ging er in den Pub und trank da ein paar Biere. Im Keller machte er dann mit spanischem Rotwein weiter. Die Jahrestage sind auch ein Gespräch von Gesine Cresspahl mit Verstorbenen, und jemand meinte einmal, Uwe Johnson habe mehr Verbindung zu den Toten als zu den Lebenden gehabt.
Auf der letzten Seite unterhält sich Gesine Cresspahl (am 20. August 1968) mit einem früheren Lehrer, Herrn Kliefoth. Sie sagt ihm: »Wie es uns ergeht, haben wir aufgeschrieben bis zu unserer Arbeit in Prag, 1875 Seiten; mit Ihrer Erlaubnis werden wir es Ihnen überreichen.« In der Tat, die Jahrestage waren bis dahin 1875 Seiten stark.
Sie enden mit: »Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen; ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war.«