Gespräche über Sport und die Liebe
Die 1500 Seiten Der Mann ohne Eigenschaften sind eine Fundgrube fürs Denken. Die Handlung von Robert Musils Roman spielt um 1920 in Wien, und damals konnte man noch mit ein paar klugen Ausführungen das Herz einer Frau gewinnen.
Ulrich, die Hauptperson, hatte eine Schlägerei mit ein paar Schurken und liegt bewusstlos am Straßenrand. Eine Kutsche hält, und die junge Frau, die innen sitzt, nimmt ihn mit. Ulrich schämt sich und will etwas Kluges sagen. So sagt er, dass Kampf wichtig sei; da würden schnelle Bewegungen ausgeführt, die das Bewusstsein nicht richtig beaufsichtigen könne. Jeder Sportsmann wisse,
dass man schon einige Tage vor dem Wettkampf das Training einstellen muss, und das geschieht aus keinem andern Grund, als damit Muskeln und Nerven untereinander die letzte Verabredung treffen können, ohne dass Wille, Absicht und Bewusstsein dabei sein oder gar dreinreden dürfen. Im Augenblick der Tat sei es dann auch immer so, beschrieb Ulrich: die Muskeln und die Nerven springen und fechten mit dem Ich; dieses aber, das Körperganze, die Seele, der Wille, diese ganze zivilrechtlich gegen die Umwelt abgegrenzte Haupt- und Gesamtperson wird von ihnen nur so obenauf mitgenommen, wie Europa, die auf dem Stier sitzt, und wenn dem einmal nicht so sei, wenn unglücklicherweise auch nur der kleinste Lichtstrahl von Überlegung in dieses Dunkel falle, dann misslinge regelmäßig das Unternehmen.
Das ist ja auch mein Thema: das Verhältnis von Geist und Körper; der Placebo-Effekt. Ulrich kommt auf sein Lieblingsthema zu sprechen, die Mystik.
Das sei im Grunde – behauptete er nun – er meine, dieses Erlebnis der fast völligen Entrückung oder Durchbrechung der bewussten Person sei im Grunde verwandt mit verlorengegangenen Erlebnissen, die den Mystikern aller bekannten Religionen bekannt gewesen seien, und es sei sonach gewissermaßen ein zeitgenössischer Ersatz ewiger Bedürfnisse, und wenn auch ein schlechter, so immerhin einer …
Dann hat Ulrich den glücklichen Einfall, über die Liebe zu sprechen. Beiläufig wies er darauf hin, dass sie zu den religiösen und gefährlichen Erlebnissen gehöre,
weil sie den Menschen aus den Armen der Vernunft hebe und ihn in einen wahrhaft grundlos schwebenden Zustand versetze. Ja, ― sagte die Dame – aber Sport sei doch roh. Gewiss, ― beeilte sich Ulrich, es zuzugeben – Sport sei roh. Man könne sagen, der Niederschlag eines feinst verteilten, allgemeinen Hasses, der in Kampfspielen abgeleitet wird. Man behaupte natürlich das Gegenteil, Sport verbinde, mache zu Kameraden und dergleichen; aber das beweise im Grunde nur, dass Roheit und Liebe nicht weiter voneinander entfernt seien als der eine Flügel eines großen bunten stummen Vogels vom andern.
Ob ihr das peinlich sei, fragt er. Tatsächlich errötet die Frau, rückt von ihm ab, scheint bewegt zu sein. Doch da hält der Wagen vor Ulrichs Wohnung. Er erkundigt sich nach ihrer Adresse – und bekommt sie nicht. Doch dafür bekommt er am Tag darauf Besuch einer tief verschleierten Dame, die sich erkundigte, wie es ihm gehe, die »auf diese romantisch-charitative Weise unter dem Vorwand, sich um sein Befinden zu sorgen, das Abenteuer eigenmächtig fortsetzte«. Letzter Satz des Kapitels:
Zwei Wochen später war Bonadea schon seit vierzehn Tagen seine Geliebte.
Anscheinend kamen die beiden schon am Abend ihres Besuches zusammen. Das sagt dieser unscheinbare, paradox wirkende Satz. Das ist echt Musil.