Das schützende Netz

Unglaublich, Andrea Camilleri! Seit ich seinen letzten Montalbano-Roman besprochen habe, Die Klinge aus Licht (2012), hat er schon wieder sechs Romane geschrieben, und einer ist besser als der andere. Hier kommen meine Gedanken zum neuesten, muss der 25. sein, und er heißt Das schützende Netz (La rete di protezione).

24 Romane gibt es auch schon von Donna Leon über ihren Kommissar in Venedig, doch ich entscheide mich für Sizilien und Camilleri, der Anfang September 92 geworden ist und nicht mehr viel sieht; den neuen Roman hat er diktiert. Die Reihe um Commissario Salvo Montalbano fing 1994 an, als Andrea Camilleri, wohnhaft in Rom, schon fast 70 Jahre alt war. Gute Schriftsteller sind wie edler Wein. Sie werden mit dem Alter immer besser.

Camilleri als Sizilianer schreibt seine Geschichten im sizilianischen Dialekt. Man findet sich hinein, aber das zu übersetzen ist ein Problem. Wer die Bücher von Ludwig Thoma kennt, die ziemlich bayerisch durchsetzt sind, hat einen Eindruck. Meisterhaft ist die Komposition von Camilleris Roman. In La rete di protezione macht ein schwedisches Filmteam in Montelusa (das dem sizilianischen Licata nachgebildet ist) Aufnahmen für ein Filmepos, das in den 1950-er Jahren spielen soll. Das gibt schon Stoff für heitere Szenen.

Ein Ingenieur zeigt Montalbano kurze Filme seines Vaters, der sechs Jahre lang jedes Jahr zur selben Zeit ein Stück Mauer gefilmt hat. Wieso? Wozu? Da ist man schon gespannt. Alte Mohtive tauchen wieder auf: Salvo Montalbano will seine Freundin Livia in Genua besuchen, 1500 Kilometer entfernt, aber wie immer kommt etwas dazwischen, und kaum hat er den Absprung geschafft, wird er zurückgerufen. Zwei Revolverhelden sind in eine Schule eingedrungen und haben herumgeschossen.

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Und wie gern der Commissario isst! Das zu erwähnen hätte ich beinahe vergessen, weil es nicht meine Leidenschaft ist. Die Trattoria von Enzo, ein wichtiger Ort! Salvo Montalbano ist eben Sizilianer, und alle Italiener essen für ihr Leben gern. (Aber, kaum zu glauben, jetzt, während des Schreibens, koche ich auch. Am Abend tu ich das gern. Es gibt Vollkornreis mit Zucchini und gelbem Paprika, darüber Parmigiano-Käse.) Whisky trinkt der Comiisario auch, und wieviele Fingerbreit er sich eingießt, verrät etwas über seinen Gemütszustand.

Nun muss sich Salvo mit Schülern herumschlagen und lernt viel über das Internet und die social media, ein schützendes Netz, das andererseits unbegrenzt wie ein Meer sein kann. Hinweise und Beobachtungen, Aussagen und Dementis strömen auf den Kommissar ein, dem dann immer wieder seine Intuition zu Hilfe kommt. Der Leser ahnt die Lösung etwas früher und folgt atemlos dem Commissario, dem auch mal Fehler unterlaufen. Seinen Mitarbeitern Mimì Augello und Fazio gesteht er:

Sì, lo saccio, ho fatto ’na minchiata. Va bene? Prima che me lo dite voi lo dico io.
Übersetzt: Ich weiß, ich hab Scheiß gebaut. Okay? Ich sag’s euch, bevor ihr es mir sagt.

Doch alles wird gut. Die Sache mit der Mauer wird auch geklärt, schwierig, der Vater des Ingenieurs war todkrank und hatte einen kranken Zwillingsbruder, den er liebte, und dann … brachte dieser sich um. Oder brachte etwa … Montalbano erfährt es am Totenbett eines alten Mannes und behält es für sich, und auch die Geschichte der Schule wird geklärt, ohne dass der betroffene Schüler mit hineingezogen werden muss.

Die letzten Sätze lauten: »Nein, nein, seit einiger Zeit kannte er die Wahrheit, und manches Mal ist es besser, sie im Dunkeln zu lassen, im dunkelsten Dunkel, nicht einmal im Licht eines Streichholzes.« Sizilianer wissen das, aber wir auch. Die Wahrheit kann brennen und einen verbrennen, und was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

 

Zwei andere Romane mit Montalbano auf manipogo:
Die Tage des Zweifels (2008)
Die Klinge aus Licht (2012).

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