Gustav Mesmer
Clarisse ahnte die Täuschung, lasen wir am 28. Januar. Auch Gustav Mesmer wird etwas geahnt haben, als ihm am 28. März 1929 eine Ausflugsfahrt im Auto versprochen wurde – die im »Irrenhaus« Bad Schussenried endete. Der begabte Maler und spätere Flugradpionier — ein »Kreativer«, ein Sonderling vielleicht — blieb 35 Jahre eingeschlossen mit den Kranken.
Gustav Mesmer hat eine schöne Homepage, die einen Film zeigt: eine seiner Ausfahrten mit dem Flugrad. Gigantisch. Geboren wurde er am 16. Januar 1903 in Altshause, nicht weit von Bad Buchau und Bad Schussenried in Oberschwaben, gestorben ist er am 25. Dezember 1994 in Münsingen.
Da denkt man doch an den großen Schweizer Dichter Robert Walser, der ebenfalls – wohl freiwillig – in der Psychiatrie einen Großteil seines Lebens verbrachte und auch an einem 25. Dezember (im Jahr 1956) gestorben ist: auf einem Spaziergang, seinem letzten. Ich habe in der Kritischen Ausgabe plus über ihn geschrieben und dabei auch an andere Schriftsteller erinnert, die in Anstalten eingewiesen wurden. Ernst Herbeck war so einer: W. G. Sebald hat ihn nicht vergessen. Er bekam wie Mesmer nach 35 Jahren in der Psychiatrie einen Platz in einem Altenheim. Mich zieht die Verrücktheit magisch an; eine Weile hatte ich mit dem Gedanken gespielt, meinen Blog nicht manipogo, sondern manicomio zu nennen, das italienische Wort für Irrenhaus, in dem mani für die Manie steht.
Gustav sollte ins Kloster eintreten, ging also zu den Benediktinern, hielt sechs Jahre auf Kloster Beuron aus und verließ den Orden 1928. Dort galt er als »merkwürdiger Kauz und Sonderling«.Weshalb brachte man ihn dann in die Anstalt? Mesmer war am 17. März 1929 in die evangelische Kirche marschiert und dort mit einer improvisierten Rede den Gottesdienst gestört … was er selber hinterher als Folge seiner sechs Jahre im Orden erklärte; ein Impuls war es, ein Ausbruch. Aber danach galt er im Dorf als gemeingefährlich, und schnell war die Diagnose »paranoide Schizophrenie« erstellt.
Meine Informationen habe ich übrigens aus einem Hörspiel von Holger Reile, zu dem Alexander Köberlein die Musik beisteuerte und das mir Michael Faiß aus Weilheim bei Tübingen zukommen ließ. Darauf gibt’s guten, kritischen Schwaben-Rock. Schwoißfuaß war von 1979 bis 1986 die führende Band der Schwobarock-Richtung. Köberlein war ihr Sänger und schreibt hier über seine frühere Band.
Ich lasse mich ablenken. Gut. Gustav. Immer wieder haut er ab, wird wieder aufgegriffen, der Vater stirbt, und er appelliert danach an die Mutter, ihn in ihrem Haus aufzunehmen, wo Platz ist, aber die hat keine Lust. 1932 baut er eine Flugmaschine, die mit Muskelkraft bewegt werden soll, 1937 Modelle aus Pappe. Er hat Glück und wird nicht von den Nazis zwangssterilisiert, auch nicht umgebracht wie 10.000 andere Psychiatriepatienten, die als »unwertes Leben« gelten.
Zwanzig Jahre nach seiner Einweisung lautet die Diagnose immer noch »paranoide Schizophrenie«, obgleich alle in der Anstalt wissen, dass Gustav Mesmser eigentlich nach draußen gehörte. Aber die Ärzte haben keine Lust, sich damit zu befassen. Er dringt auf Entlassung, aber seine Hilferufe werden überhört. Seine zeichnerische Begabung wird erkannt. Gustav hat sogar ein altes Fahrrad umgebaut und will es zu einem Fluggerät umgestalten. Endlich gibt man ihm – mit 61 Jahren – einen Platz in einem Altenheim auf der Schwäbischen Alp.
Und nun beginnt für ihn eine lange, 30 Jahre währende Ära der Produktivität, die kaum zu überblicken ist. Mesmer schreibt und zeichnet und malt, er verwendet Schrott für die Tragflächen und Plastiktüten für den Auftrieb, noch bevor es den Begriff Recycling gab. Als Ikarus vom Lautertal ist er nun anerkannt. Er träumt davon, wie schön es wäre, an einem Feiertag von Dorf zu Dorf zu schweben – den Pendelverkehr durch die Lüfte hat er im Sinn, den Luc Besson in seinem Film Das fünfte Element darstellt (1997) und der sich heute andeutet, da Uber schon Leute durch die Luft zum Flughafen transportieren will.
Der anerkannte Erfinder heißt nun »der Flugradbauer von Altshausen«, seine Aquarelle werden ausgestellt, und der Höhepunkt ist, als ein Mesmer-Modell den deutschen Pavillon der Weltausstellung 1992 in Sevilla ziert, das dem »Traum vom Fliegen« gewidmet ist. Gustav Mesmer erlebt das noch mit und stirbt mit fast 92 Jahren nicht auf einem Spaziergang, sondern an den Folgen eines schweren Sturzes mit einem seiner Geräte.