Ghana Must Go
Versteckt neben dem Fahrradständer des Altenpflegeheims, fast verborgen steht da ein Regal mit Gebrauchtbüchern. Darin bot sich ein neuer Roman (von 2013) mir an, 320 Seiten, elegant gemacht, und er hieß Ghana Must Go. Von Taiye Selasi, einer afrikanischen Autorin. Da musste ich zugreifen. Der Rest ist eh Schrott.
Ich hätte herauskriegen können, wer das Buch dort eingestellt hat. Das Heim hat nur fünf oder sechs afrikanische Mitarbeiter. Einer stammt aus Nigeria, einer aus Gambia, und eine junge Frau soll aus Ghana sein. Spielt aber keine große Rolle. Der erste Satz zieht dich schon rein, so muss das sein in einem guten Roman:
Kweku dies barefoot on a Sunday before sunrise, his slippers by the doorway to the bedroom like dogs.
Meisterhaft. Im ersten Teil erfahren wir, was dem Chirurgen Kweku Sai, 57 Jahre alt, in seinem Haus in Accra durch den Kopf geht, als er spürt, dass es mit ihm zu Ende geht. Hab ich atemlos gelesen. Kweku war Mediziner in Harvard, verlor auf unglückliche Weise seinen Job, heiratete zum zweiten Mal (eine junge Frau). Er hat vergessen, wie schön die Welt ist, hat nicht genug geliebt, hat die Liebe für selbtverständlich genommen. Kweku war aber ein guter Mann und Vater. Am Ende landet ein Schmetterling vor seinen Füßen. Der Hund riecht den Tod und bellt, verjagt den Schmetterling.
Er pumpt mit den Flügeln und fliegt weg. – Stille.
Fliegt weg wie Kwekus Seele. Auch das ist schön. Taiye Selasi ist 38 Jahre alt und war einmal (2014) Poetik-Dozentin in Tübingen – neben Pryja Basil, die so kenntnisreich für die Lettre internationale schreibt (und zwei anderen, Chika Unigwe und Nii Ayikwei Parkes).
Dann, Teil zwei: die Familie. Fola, Kwekus schöne Frau. Die Kinder Olu (Arzt), die Zwillinge Kehinde (Künstler) und Taiwo (Publizistin), die Nachzüglerin Sadie. Sie erfahren vom Tod des Vaters. Wir erfahren ihre Lebensumstände und ihre Gedanken, in abgerissenen Halbsätzen, Andeutungen, in Bildern aus der Vergangenheit. Da war ich nicht mehr so in Form und folgte der Handlung nur unaufmerksam. Lag aber an mir, ich konnte mich nicht konzentrieren. Obwohl die Beziehung der Geschwister untereinander und zu Mutter und Vater interessant war.
Es geht ja um den Vater. Plötzlich schält er sich heraus. Man denkt an ihn, diese wichtige Gestalt. So ein Buch kann eigene Erinnerungen mobilisieren, kann sich einen sich neu auf den Vater konzentrieren lassen. Auch wenn ich schnell las: Sie sind sympathisch, diese vier jungen Leute, man kommt ihnen nah.
Ich denke mir: Es geht nicht nur um Afrikaner und Asiaten; dem Menschen ist sein Mitmensch fremd; ich merke, wie mich andere beäugen, ich bin ihnen fremd, sie sind irritiert, was ist das für einer, bedroht der mich? Jeder fühlt sich ja andauernd auf dem Prüfstand. Lebe ich richtig?
Die Geschwister fliegen zum Begräbnis nach Ghana, wo ihre Mutter Fola lebt. Sie alle entdecken sich als zusammengehörig, als Familie, die nunmehr um das schwarze Loch kreist, das Kweku hinterlassen hat. (Wie wir an Silvester 1985 ratlos dasaßen, Mutter, Schwester und ich, nachdem der Vati gegangen war, 58 Jahre alt. Oder meine Nichte und mein Neffe 1991, die 10 und 8 Jahre alt waren, als der Vater starb. An Bombi denke ich auch, der in Südafrika starb, alleine, in seinem Haus am Meer.).
So findet Kweku Sai seine Ruhe. Seine Urne wird ins Meer gespült. Er war ein guter Mann, er hat etwas hinterlassen. (Er hinterlässt sogar noch Worte. Fola hört ihn, am Strand: Hier bin ich. Warum habe ich dich verlassen? − Fola: Wir taten, was wir wussten. Emigranten gehen weg. − Hätten wir’s nicht lernen können, nicht weggehen? − Hm. Bist du noch da? − Ja. Für immer.)
Tod und Weiterleben, passend für Ostern. Am Anfang, ist der Roman besonders groß. Kurze Sätze wie Grabsprüche. Später fließt das Buch dann elegant dahin, Kwekus Leben wird von anderen nachmodelliert, entsteht in deren Augen. Er dachte sich noch: Mein gebrochenes Herz, hat es mich doch eingeholt. Nichts überspielen, nichts erklären; sich hineinfallen lassen, es durchstehen, dann geht eine Zukunft daraus hervor.